Einleitung
Dorothea Schlegels Roman Florentin, der 1801 erschienen ist, lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen, da er unterschiedliche Themen wie etwa Freundschaft, Liebe, Ehe und Geschlechterproblematik thematisch behandelt. Das Augenmerk richtet sich aber vor allem auf die Ambivalenz der Geschlechter, die dem Diskurs der Autorin innewohnt. Der gleichnamige Protagonist, dessen Geschichte bzw. Schicksal im Roman erzählt wird, impliziert die Subjektwerdung der Autorin zugleich, denn es geht um die Identitätssuche. In diesem Sinne ist von einem intersubjektiven impliziten gendering die Rede. In literarischen Texten stehen meistens die Figuren sowie deren Entwicklung und Identitätskonstitution im Mittelpunkt. Aus der genderorientierten Narratologie sind Erzähltechniken nicht bloß erzähltechnische oder strukturelle Merkmale von Texten, sondern hochgradig semantisierte narrative Modi, die aktiv und spielerisch an der Konstruktion sowie Ambivalenz von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen beteiligt sind (Vgl. Nünning, 2004: 11). In diesem Roman stimmt das Geschlecht der Autorin nicht mit dem der Erzählinstanz überein. Das weibliche Geschlecht wird narrativ mittels der Florentin-Figur und deren Erzählweise inszeniert. An dieser Stelle ist vom Genderentwurf des Erzählers die Rede. Es ist nicht im Sinne einer Geschlechtsumwandlung, wie es für Virginia Woolf mit ihrem berühmten Roman Orlando der Fall ist, sondern es handelt sich eher um die Inszenierung, Ambivalenz und Konstruktion einer weiblichen Geschlechtsidentität; somit handelt es sich um eine narrative Performativität. Davon ausgehend hat der folgende Beitrag die Geschlechterinszenierung und -ambivalenz zum Untersuchungsgegenstand. Zudem lässt sich fragen, inwiefern dieser literarische Erzähltext die Geschlechtsidentität und ihre Ambivalenz inszeniert. Und welchen ästhetisch-poetischen Stellenwert diese Inszenierung und Ambivalenz für die Autorin aufweisen.
1. Die poetisierte Androgynie
Dem Metzler Lexikon für Geschlechterforschung zufolge wird ’Androgynie‘ folgendermaßen definiert:
« Sie bezeichnet im medizinischen und biologischen Diskurs ein Individuum ohne eindeutige Geschlechtsausprägung […] Androgynie gilt danach als besonders günstige Persönlichkeitsausprägung, da die bipolare Geschlechtertypisierung zu Verhaltenseinschränkungen führe ». (Kroll, 2002 : 10).
Das Androgyne stellt demnach einen wesentlichen Stellenwert in den Gender Studies auf. Das Motiv der Androgynie wird in der Gegenwartsprosa daher zur gesellschaftskritischen Diagnose und zur Reflexion sozial determinierter Gender-Zuschreibungen ausgenutzt. Darüber hinaus wird Androgynie oft mit poetologischen, kunsttheoretischen Aspekten verbunden (Vgl. Bartl, 2014: 279).
Die Geschlechterdichotomie sowie die Geschlechterhierarchie spielen eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit der Androgynie, wie es der Roman eigentlich veranschaulicht. Die Zusammensetzung beider Geschlechter in einem Wort bedeutet somit die Einheit von Mann und Frau in einem Wesen. Das konstruierte ambivalente Ich in diesem Roman setzt das Männliche und Weibliche in Verbindung, was demzufolge ein Drittes impliziert.
Die anonyme Hauptfigur des Romans scheint vermeintlich männlichen Geschlechts zu sein, die gewissermaßen eine ambivalente Rolle in der Handlung einnimmt, indem Florentin am Anfang des Textes als Held bezeichnet wird, der aber paradoxerweise vor seiner Realität und Gegenwart als solcher allmählich flüchtet. Die Tatsache, dass die Identitäten hier ’gemischt’ bzw. hybrid sind, gilt als ein Anzeichen für Androgynie als existentielle Kondition.
1.1. Zum Zusammenspiel von Namen und Geschlecht im Roman
Bei der Namengebung handelt es sich in Dorothea Schlegels Werk um einen männlichen Namen, der eine Inszenierung des weiblichen Geschlechts suggeriert, was hier als Gender-Markierung fungiert. Dies kann als Textstrategie der Autorin gedeutet werden, die sogar als Zeichen für eigene Affirmation im literarischen Bereich gilt. Bei diesem männlichen Pseudonym geht es um eine Anspielung bzw. ein Indiz des kulturellen Opferstatus der Frau, die sowohl ihr Geschlecht als auch ihre Identität verbirgt (Vgl. Kord, 1996: 31). Aus biographischer Sicht spielt die Autorin hiermit das männliche Geschlecht in ihrem Leben als Nicht-Autorin und vereinigt hiermit beide Geschlechter.
1.2. Die intersubjektive Reflexion durch eine männliche Figur
Laut Nieberle und Strowick besteht ein enger wechselseitiger Zusammenhang zwischen Erzählen und Identität (Vgl. Nieberle/ Strowick, 2006: 23). Dem wechselseitigen Zusammenhang zwischen Erzählen und der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten ist erst in jüngster Zeit Beachtung geschenkt worden. Die performative Qualität von Erzählungen besteht nicht darin, zur Identitätsbildung beizutragen, sondern dass durch Erzählungen jedweder Art auch Geschlechtsidentitäten konstruiert werden (Vgl. Ebd., S. 25). In diesem Sinne besteht die Funktion von Erzählungen nicht nur im making selves, sondern auch im making gendered selves (Vgl. Ebd., S. 25), wie der Romantitel veranschaulicht. In dieser Hinsicht ist von der Thematisierung, Inszenierung und Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit die Rede. Das androgyne Ich in ‚Florentin‘ erzählt wiederum von diesen Konstruktionen: « Beinah‘ möcht‘ ich glauben, dass ich eigentlich für das beschränkte häusliche Leben bestimmt bin, weil alles dafür in mir anspricht » (Florentin, S. 83). Hier geht es um das archaische Denken, das besagt, dass eine Frau für den häuslichen Bereich geeignet wäre. Auf der Handlungsebene werden nicht geschlechtslose Charaktere, sondern weibliche und männliche Figuren dargestellt. Erzählt wird nicht von einer geschlechtslosen Stimme, sondern von einer männlichen Erzählinstanz, die das Weibliche verinnerlicht und inszeniert. Die Kategorie des Geschlechts schlägt sich nicht nur auf der Ebene der Figuren nieder, sondern auch spielerisch bei allen Instanzen, die an der Kommunikation eines Erzähltextes Anteil haben (Vgl. Nünning, 2004: 13). Im Hinblick auf die Gender Studies erscheint somit die Stimme von Florentin als metaphorischer Träger. Daher ist in Anlehnung an Susan Lanser (Vgl. Ebd., S. 20) vom Doppelstatus der Stimme die Rede. Diese ist ebenfalls von einem Double-voiced discourse motiviert: « For the condition of being woman in a male-dominant society may well necessitate the double voice, whether as conscious subterfuge or as tragic dispossession of the self » (Lanser, 1986: 349).
Das intersubjektive Spiel mit der Stimme erlaubt also, narrative Techniken nicht als Produkt von Ideologie, sondern als ideologische Praxis und als performative Akte zu begreifen (Vgl. Nieberle/ Strowick, 2006: 144). Aus dieser Sicht erscheint Erzählen somit als einer der performativen Akte, die Identitäten und Geschlechterkonstruktionen überhaupt erst erzeugen und kulturell stabilisieren (Vgl. Nünning, 2004: 22): « Aus meiner Kindheit weiß ich mir nichts so bestimmt zu erinnern, als den Zwang und das Unrecht, das mir geschehen ist, […] » (Florentin, S. 34).
Die anonyme Hauptfigur des Romans scheint anfangs männlichen Geschlechts zu sein, deren Herkunft im ganzen Roman verborgen bleibt. Florentin fehlt die feste männliche Identität. Obwohl Florentin als Mann dargestellt wird, ist aber die Unbestimmtheit seiner Herkunft und seines Charakters eher eine weibliche Figur zu entnehmen. Sein Name wird geheimnisvoll stilisiert und es scheint, als wollte er etwas verbergen. In diesem Kontext ist besonders der folgende Wortwechsel interessant, den Juliane „ihrer Tante“ in einem Brief schildert:
« Sogar das Geheimnisvolle, das über seinem Namen und seiner Herkunft schwebt, achtet er, zu unserem Erstaunen […] »Von Florentin ? « fragte der Vater […] »Wenn es durchaus mit meinem Namen allein nicht genug ist« , sagte er, »so setzen Sie Baron hinzu, das bezeichnet wenigstens ursprünglich, was ich zu sein wünschte, nämlich einen Mann. « » (Ebd., S. 27).
Da Frauen in dieser Zeit Selbstbestimmung untersagt war, lässt sich diese intersubjektive Reflexion als Rebellion und Aufbegehren gegen starre Rollenzuweisungen interpretieren. Dorothea Schlegel hat auf diese Weise ihre weibliche Vorstellung und Wünsche auf ihre Hauptfigur übertragen und auf diese Weise ihren Spielraum als Autorin ausgeweitet und die Geschlechterdichotomie mit der Figur angezweifelt.
Die Autorin verwendet die Florentin-Figur zwecks der provokativen Versetzung in eine weibliche Ästhetik und Poetik, da Frauen am Anfang des 18. Jahrhunderts noch kein Recht zum Schreiben hatten. Es geht sozusagen um einen subversiven Geschlechterdiskurs, da Florentin eine Frau subversiv verkörpert. Androgynie wird somit im Roman als romantisches Schreibkonzept konzipiert.
Florentin sucht nicht nach der utopischen Versöhnung im Sinne einer kosmischen Umarmung der Liebe, sondern er versucht, das Rätsel seiner Herkunft zu lösen: « Noch habe er nichts Näheres über meine Geburt und meine Eltern erfahren können, er würde aber keine Mühe sparen und mir, sobald er etwas Sicheres wisse, Nachricht darüber erteilen » ( Ebd., S. 58).
Die schmerzhafte Anamnese der eigenen Geschichte dient der Selbstvergewisserung der eigenen Person. Aus den mitgeteilten Bruchstücken aus Florentins Kindheit und Jugend wird deutlich, dass er ein ungeliebtes Kind war, das ohne Vater und Mutter aufgewachsen und zudem extremem psychischen Druck durch eine widersprüchliche und strenge Erziehung ausgesetzt ist. Interessant im Zusammenhang mit der Geschlechterinszenierung ist ebenso der klassische Gebrauch des Wir-Pronomens als Integration des Lesers/ der Leserin in die fiktionale Welt:
« Wie die Kinder beschäftigte uns die Dunkelheit über mein vergangnes Schicksal mehr, als die Sorge für die Zukunft ; ein sonderbares Rätsel war es allerdings, daß fremde Menschen sich eine solche Gewalt über mich hatten anmaßen wollen, und dann mich wieder mit so vieler Sorgfalt behandelt hatten. » (Ebd., S. 56).
Hinter den wütenden Attacken Florentins gegen eine falsche Frömmigkeit und die Repressivität einer mönchischen Erziehung verbergen sich – kaum verhüllt – die Affekte einer Autorin, die aus den eigenen Sozialisationserfahrungen eines doppelten Pariatums resultieren (Vgl. Stephan, 1991 : 90) : « >Ja <, rief ich mit dem größten Affekt, >ich will lieber den Tod als das Kloster ! ich will die abscheulichen Mönchskleider nicht länger tragen ! ich will nicht aussehen wie diese Mönche, und nicht werden wie sie ; dazu hat man mich schon seit der zarten Kindheit gewöhnen wollen. < » (Florentin, S. 45).
Florentin ist verinnerlicht eine Doppelfigur, deren anderen Teil das Ich einer weiblichen Autorinnenfigur impliziert. Es handelt sich somit um jene Verkörperung von Florentins Gender, deren Grundlage die Weiblichkeit des Ichs darstellt. Die Florentin-Figur ermöglicht dem weiblichen Ich des Romans zu erzählen. Es geht hiermit um die geschlechtliche Ambivalenz und scheinbare Ambiguität des Autorin-Ichs.
Weiterhin geht es um eine ambivalente Geschlechtsidentität, da in manchen Stellen von Queer-Beziehungen die Rede ist. Florentin erscheint emotional und empfindsam, indem er über seinen Freund Manfredi erzählt. Aber die Beziehung, die zwischen den Beiden dargestellt wird, weist eher eine romantische Liebe auf: « Von niemand hätte ich sie ertragen, als von dem, der den Mut und die Liebe hatte, alles für mich zu wagen. O du mein guter Genius, der du meine Jugend, mein schönstes Dasein schütztest, warum haben wir uns trennen müssen ? Seitdem, mein Manfredi, wandre ich einsam und in der Irre » (Ebd., S. 50).
In diesem Zusammenhang fungiert diese Identitätskonstruktion als Schauplatz der Störung, des Irrtums, der Verwirrung und des Unbehagens als Ansatzpunkt für einen gewissen Widerstand gegen Klassifizierung und gegen Identität an sich (Vgl. Schößler, 2008: 112):
« Eduard nahm seine Hand ; Florentin blickte ihn an und sah Tränen in seinen Augen glänzen, er warf sich in seine Arme : – »Ich verstehe den Vorwurf dieses Händedrucks, mein guter Eduard ! Nein, ich bin jetzt nicht mehr allein, nicht mehr in der Irre ! ich habe wieder ein Herz gefunden, das verdient neben dem Andenken an meinen Manfredi zu stehen ! ich bin dein, Eduard, auf immer ! « – »Ewig dein, mein Florentin !« – Sie hielten sich in fester Umarmung umschlossen » (Florentin, S. 50).
2. Zur Geschlechterordnung im Roman
Durch die polyphone Ich-Stimme sind unterschiedliche Frauenbilder entworfen worden. Die Autorin schildert unterschiedliche Bilder, die ein weibliches Schicksal thematisieren. Laut Franziska Schößlers Patriarchatskritik, wird die Frau als das Andere des Mannes angesehen, die ihm sozusagen unterworfen ist (Vgl. Schößler, 2008 : 23). Die Frau wird in den Gender Studies als Mutter, Kranke, Hure, Heilige, Gattin, Kämpferin, Tier, aber auch als Göttin bezeichnet (Vgl. Ebd., S. 74). Im Florentin-Text sind unterschiedliche Figuren vorhanden u.a. Eleonore, Juliane, Clementina und Betty. Diese übernehmen unterschiedliche Funktionen im Roman. Im ersten Kapitel des Romans kommt der Graf zur Sprache, wo er auf die Funktion der Frau in der Gesellschaft verweist, indem sie für das Haus geeignet sei. Die folgende Schlüsselpassage entlarvt und dekonstruiert zugleich eine tradierte Ökonomie der Geschlechter : « […] »Eigentlich leben wir wie unsre deutschen Väter : den Mann beschäftigt der Krieg, und in Friedenszeiten die Jagd, der Frau gehört das Haus und die innere Ökonomie. « » (Florentin, S. 12).
Juliane als Tochter der gräflichen Familie wird als abhängige Frau dargestellt, die nichts gegen die Ehe mit Eduard sagen kann, weil es ihr Schicksal darstellt. Das archaische Bild der Hausfrau lässt sich demnach erkennen. Ihre Rolle beschränkt sich auf die Haushaltssphäre, die sich im Grunde als Rollenzwang erweist : « Juliane hatte die Erfahrung ihrer Abhängigkeit gemacht, und musste es sich gestehen » (Ebd., S. 96).
Außerdem handelt es sich in diesem Roman um Zwangsheirat. Dies zeigt u.a. die Unabhängigkeit der Frau, wobei Frauen von männlichen Zwängen ausgehen : « Meine teure Clementina schreibt von Pflichten, die mir nun aufgelegt werden, denen ich vielleicht aufgelegt werden, denen ich vielleicht nicht gewachsen sei. Was sind das für Pflichten ? Gibt es noch andere, als die ich kenne : dass ich Eduard einzig und bis in den Tod lieben soll ? » (Ebd., S. 103).
Dementsprechend setzt sich die Autorin mittels der Florentin-Stimme gegen die Institution der traditionellen Ehe, was die konventionelle Geschlechterordnung kritisch mit reflektiert. Die folgende Textpassage veranschaulicht daher durch das vieldeutige man-Pronomen den Geschlechterdualismus zwischen Mann und Frau : « Wo man zwei ist, und doch allein » (Ebd., S. 139).
Die Autorin charakterisiert auch die Ehe, in der die Liebe fehlt. Sie zielt damit unmittelbar auf geschlossene Verbindung von Juliane und Eduard, deren Scheitern sie mit Verweis auf eigene Erfahrung prognostiziert ab (Vgl. Stephan, 1991 : 87). Mittels eines ironischen Erzähltons werden Fremdheit sowie Geschlechterordnung dialogisch inszeniert :
(...) Ihrer Frau ? « rief Juliane erstaunt ; »doch wahrscheinlich bloß ihrer Haushälterin ? « – »Nein, meiner Frau ! (...) Wie ? sie sind verheiratet ? (...) Wirklich getraut ? « fragte Eduard. » Wahrscheinlich traute sie mir, und ich habe ihr nur zuviel getraut » (Florentin, S. 64).
Weiterhin erzählt Florentin von seiner Gemahlin, die als Modell gesetzt hat ; in der folgenden Passage sind unterschiedliche Frauenbilder allegorisch und mythisch re-präsentiert : « Ich malte sie unter jeder Gestalt, und in allen ersinnlichen Stellungen, als Göttin, als Heilige, als Priesterin, als Nymphe : diese Bilder sollen mir sehr gut gelungen sein » ( Ebd., S. 65).
Im Roman wird zugleich von Florentins Schwester als Pendant erzählt, die als schwaches und abhängiges Mädchen beschrieben wird. Folgende Textstelle veranschaulicht u.a. dessen Infantilisierung, indem die Frau im Geschlechterdiskurs bevormundet wird. Der Gebrauch des Wortes Kind in der folgenden Passage gilt sogar als negative Entsexualisierung : « Das arme Kind war nun ganz den Menschen überlassen, die sich der Schwäche ihres Charakters bedienten, um sie nach ihrer Willkür zu lenken. Sie fühlte ihre Abhängigkeit, aber diese drückte sie nicht wie mich » (Ebd., S. 48).
Im Geschlechterdiskurs ist von der (pathologischen) Stigmatisierung der Weiblichkeit die Rede (Vgl. Schößler, 2008: 37). Die Autorin redet in diesem Zusammenhang vom Krankheitsbild der Hysterie1. Im zwölften Kapitel wird von einer Freundin der Clementina, die als Marquise genannt wird, erzählt. Sie hat kein Kind gehabt und begann die Gestalt eines Kindes zu sehen. Aufgrund dessen wird sie als zerstörerische Frau repräsentiert: « […] dass man sie für krank hielt, und als ob ihr nicht geglaubt würde, dass sie wirklich das sähe, was sie zu sehen vorgab, beschrieb sie mit der größten Genauigkeit und ganz gelassen die Gestalt des Kindes, das sie zu ihren Füssen an das Bett gelehnt stehen sah » (Florentin, S. 90).
3. Zum Künstlerin-Dasein und Pikturalen im Roman
Virginia Woolf versucht mit ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein2 die materiellen Bedingungen von Kunst und Bildung, die sich im Sozialisationsprozess etablierten, zu rekonstruieren und verdeutlichen. Sie fordert deshalb eine Form von Geschichte, die auch Frauen sichtbar werden lässt (Vgl. Schößler, 2008: 51f). In diesem Roman geht es sozusagen um das romantische Künstler-Dasein. Wäre Florentin offensichtlich eine Frau gewesen, wäre ihr der Status als Maler zwangsläufig verweigert: « […]mit einiger Anleitung hätte ich vielleicht ein Künstler werden können » (Florentin, S. 40).
Mittels Florentin-Figur, die von Kunst bzw. von der Malerei begeistert ist, erkennen wir zugleich die Autorin, die auch Kunst studiert hat. Florentin wollte sich von der Kirche befreien und sein Traum war, Soldat zu werden. Nach erschlossener Bekanntschaft mit unterschiedlichen Malern, beschloss er dennoch Kunst zu studieren und nach Rom zu reisen. An dieser Textstelle lässt sich auch eine gewisse Selbstreflexivität erkennen :
« Dies und der Umgang mit einigen jungen deutschen Malern, die ich in der Zeit kennenlernte, brachten mich auf den Gedanken, die Kunst zu studieren und dann nach Rom zu gehen, um seine Wunder der Kunst zu sehen und zu verstehen. […] Ich sann und tat und träumte nichts anderes, als Zeichnen, die Werke des Altertums studieren, und mit meinen Malern Kunstgespräche führen » (Ebd., S. 59).
In verschiedenen Kapiteln des Romans ist von der Rekurrenz der Kunst die Rede, wobei das Sichtbare laut Florentin, nur durch Bilder und Gemälde möglich wird. Die Bildlichkeit gilt somit als strukturbildendes Diskurselement des Romans, das nicht nur im Hinblick auf die Handlung, sondern auch hinsichtlich der Zeit dominant ist. Die folgende Passage weist auch auf die Dauerhaftigkeit eines bildlichen Diskurses hin, dessen Bilder auf diese Weise gegen Vergänglichkeit und Vergesslichkeit der Geschichte wirken: « Hier in diesen Sälen malte er sich nun die mannigfachen Szenen aus, die darin gespielt wurden; wie sich alle Mitspielenden für ihre Rolle interessierten, als sollte sie niemals endigen » (Ebd., S. 18).
Bereits am Anfang des Romans betont die Autorin den bildhaften Blick des Protagonisten. Sein Blick verwandelt das Gesehene in Bilder bzw. überträgt Geschehenes auf ihm bekannte Bilder (Vgl. Ebd., S. 14). Der Protagonist verweigert das Wort und schweigt. Auf diese Weise geht es um die Inszenierung eines neuen, poetischen Diskurses, der der bildenden Kunst entspringt und auf diese Weise den patriarchalen Diskurs durch eine Ästhetik des Schweigens dekonstruiert und kritisiert.
Die Abwertung des Logos bei seiner gleichzeitigen Übersetzung ins Bildliche kann als poetisches Prinzip verstanden werden, da es im Verlauf des Romans von der Dominanz des Pikturalen bzw. des Bildlichen durch suggerierende Gemälde die Rede ist. In dieser Passage stößt man auf die Dominanz des Bildlichen über das Wort, indem das Bildliche als Überschreitung der Logos-Sprache gilt: « Nun so will ich zeichnen, wenn ich mich mit Worten nicht verständlich machen kann! » (Ebd., S. 129).
Im Roman sind unterschiedliche Verweise auf berühmte Maler wie Teniers, der im Text bei der Darstellung der Hochzeit von Juliane und Eduard genannt wird. An dieser Stelle ist von einem intermedialen Einfluss die Rede: « »Mir ist« , sagte Florentin, »als sähe ich eine Szene von Teniers lebendig werden! » (Ebd., S. 106). Demgemäß enthält David Teniers Gemälde (Große Dorfkirmes mit dem tanzenden Paar) zentrale Elemente, die sich im Text wiederholen. Eine Vertextlichung der Bilder wird demnach in den Text eingebettet.
Weiterhin bilden die Bilder eine gewisse Zeitstruktur. Mittels derer werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander projiziert. Bei der Betrachtung des Gemäldes der heiligen Cäcilia, wird die Erinnerung an die Kindheit suggeriert, was die Gedächtnis-Rekonstruktion beabsichtigt. Die Bilder vergegenwärtigen allem voran Pathosformeln bzw. Ausdruckschiffren. Diese Pathosformeln sind zugleich geschlechtlich organisiert (Vgl. Schößler, 2008: 180). Sie artikulieren und übermitteln die emotionalen Erlebnisse des Künstlers im Angesicht einer bedrohlichen Wirklichkeit (Vgl. Ebd., S. 180). Die Kunst konserviert somit diese archetypischen Formeln und fungiert demnach als soziales Erinnerungsorgan (Vgl. Ebd., S. 180): « Indem er sie aber immer schärfer ansah, dünkten ihm ihre Züge je länger je mehr bekannt. Die Szenen seiner Kindheit wurden wieder lebendig vor ihm; die Erinnerung an Manfredi drängte sich ihm besonders wieder auf, und alle Begebenheiten jener Zeit » (Florentin, S. 136).
Die Kunst fungiert für Florentin als Ort und Moment der Selbstverwirklichung und Emanzipation. Hier kommt den Landschaftsbildern besondere Bedeutung zu, weil sie sich im Sinne der Suche nach dem Ursprung verstehen lassen:
« Unter ihnen fand ich jederzeit den hellsten Sinn, das treulichste Bestreben, und am meisten innere Freiheit. Sobald meine Gemälde verkäuflich waren, legte ich das Gewerbe eines Cicerone völlig nieder, zeichnete und malte ununterbrochen. Um den Verkauf meiner Bilder, meistens Landschaften, bekümmerte ich mich ebensowenig, als um die Anwendung des gelösten Geldes » (Ebd. , S. 64).
Schlussfolgerung
Dorothea Schlegels Roman Florentin thematisiert grundsätzlich die Frage der Subjektkonstitution und -konstruktion. Im Text ist aber auch der Verweis auf die Schwierigkeiten bei der Realisierung eines weiblichen Schreibprozesses vorhanden. Es wird von einer Geschlechterambivalenz im Zeichen einer künstlerisch-(auto)biographischen Subjektwerdung die Rede. Zudem wird eine intersubjektive Reflexion durch eine männliche Figur impliziert wie etwa durch die onomastische Stilisierung des Namenstitels.
Die Überschreibung der eigenen Weiblichkeit durch die Florentin-Figur ist notwendige Konsequenz einer Situation, in der die Frau, historisch gesehen, von Selbstbestimmung und -verwirklichung lange ausgeschlossen war. Diese Überschreitung gilt als Rebellion gegen festgelegte Rollenzuweisungen und Regression.
Ausgehend von der Geschlechterinszenierung und –ambivalenz versucht die Autorin die Geschlechterdifferenz zu dekonstruieren und will sich von den Geschlechterstereotypen auflösen.
Was im Text auch nicht ausgeklammert sein sollte, ist die Bedeutung der bildlichen Schrift als poetischer Diskurs. Das Bildliche gilt als Rückkehr in die Innerlichkeit der Autorin, als Suche nach dem tiefen Ich.