Die Poetik transgressiver Genderräume in Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica, 30

شاعرية المساحات المتعدية بين الجنسين في رواية مارلين ستريروفيتز جيسيكا،30

The Poetics of transgressive Gender Spaces in Marlene Streeruwitz’s Novel Jessica, 30

La poétique des espaces transgressifs et genrés dans le roman Jessica, 30 de Marlene Streeruwitz

Souad Rersa

p. 55-66

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Souad Rersa, « Die Poetik transgressiver Genderräume in Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica, 30 », Aleph, Vol 11 (2) | 2024, 55-66.

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Souad Rersa, « Die Poetik transgressiver Genderräume in Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica, 30 », Aleph [En ligne], Vol 11 (2) | 2024, mis en ligne le 03 janvier 2024, consulté le 21 novembre 2024. URL : https://aleph.edinum.org/10278

Marlene Streeruwitz ist eine österreichische Autorin und Vertreterin des Feminismus. Ihre Werke gelten exemplarisch für eine weibliche Poetik. Jessica, die Hauptfigur des Romans Jessica 30., die als Journalistin in einer Agentur beruflich tätig ist, geht dem Weg der Emanzipation. Sie setzt sich gegen männlich-patriarchale Herrschaft und Unterdrückung, aber vor allem gegen die Degradierung der Frau als sexuelles Objekt männlichen Begehrens. Unterschiedliche Räume wie etwa die Arbeitswelt und der weibliche Körper sind im hier untersuchten Roman erkennbar. Davon ausgehend legt der vorliegende Artikel das Augenmerk auf die Poetik transgressiver Genderräume und deren Funktion in Marlene Streeruwitz’ Roman und setzt sich zum Ziel, ihre Erscheinungsformen in Streeruwitz’ Poetik an den Tag zu legen.

مارلين ستريروفيتز هي مؤلفة نمساوية وممثلة للنسوية، وأعمالها مثالية للشاعرية الأنثوية. جيسيكا، الشخصية الرئيسية للرواية، التي تعمل كصحفية في إحدى الوكالات، تسير على طريق التحرر. إنه يعارض الحكم الأبوي الذكوري والقمع، ولكن قبل كل شيء ضد تحقير المرأة كموضوع جنسي لرغبة الذكور. يمكن رؤية مساحات مختلفة مثل عالم العمل والجسد الأنثوي في الرواية التي تم فحصها هنا. بناءً على ذلك، يركز المقال الحالي على شاعرية المساحات الجندرية المتعدية ووظيفتها في رواية مارلين ستريروفيتز ويهدف إلى الكشف عن مظاهرها في شاعرية ستريروفيتز.

Marlene Streeruwitz est une auteure autrichienne et représentante du féminisme. Ses œuvres sont considérées comme exemplaires d’une poétique féminine. Jessica, le personnage principal du roman, présentée comme une journaliste travaillant dans une agence, suit la voie de l’émancipation. Elle s’oppose à la domination et à l’oppression patriarcales masculines, mais surtout à la dégradation de la femme en tant que fétiche de l’homme. Différents espaces, comme celui du monde du travail et du corps féminin, participent d’une configuration des lieux dans le roman étudié. De ce fait, le présent article met l’accent sur la poétique des espaces des genres transgressifs et leurs fonctions dans le roman de Marlene Streeruwitz et se fixe pour objectif de mettre au jour leurs manifestations dans la poétique de l’autrice autrichienne.

Marlene Streeruwitz is an Austrian author and representative of feminism. Her works are considered exemplary of a female poetics. Jessica, the main character of the novel Jessica 30., who is portrayed as a journalist in an agency, has taken the path of emancipation. She opposes male patriarchal rule and oppression, but above all against the degradation of women as a sexual object of male desire. Different spaces, such as the working world and the female body, are recognizable in the novel under study. Based on this, the present article focuses on the poetics of transgressive gender spaces and their fonction in Marlene Streeruwitz’s novel and aims to reveal their manifestations in the poetics of the Austrian author.

„Die einzige Geschichte der Machtformen ist eine Geschichte der Räume, in denen Macht sich zeigt“ (Foucault, 2017: S. 83)

Einleitung

Marlene Streeruwitz gehört neben Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek zu den bedeutendsten feministischen österreichischen Autorinnen. Ihre Prosawerke beschreiben im Grunde Frauenschicksale, indem sie aber auch eine Geschlechterproblematik und deren Raumkonfigurationen in den Mittelpunkt ihrer poetischen Reflexion rücken.

In ihrem 2004 erschienenen Roman Jessica, 30., der in drei Kapitel aufgeteilt ist, weisen Heterotopien einen besonderen poetischen Stellenwert auf. Der Raum spielt dabei neben Zeit eine besondere Rolle. Daher ist von einem topographical turn bzw. spatial turn die Rede (Günzel, 2008: S. 219). Bei den Räumen in literarischen Texten lässt sich eine kulturelle, soziale und historische Dimension erkennen. Im hier untersuchten Roman liegt nicht nur das Augenmerk auf Raum, sondern dessen Zusammenhang mit der Gender-Kategorie wird im vorliegenden Beitrag in Betracht genommen. Die Protagonistin bzw. Jessica, die als Journalistin im Roman dargestellt wird, versucht sich zu verwirklichen und von den Fesseln archaischer Geschlechterrollen zu emanzipieren. Im Roman besteht eine Korrelation zwischen Körper und Raum, die im Sinn von Michel Foucaults Heterotopie-Konzept (Foucault, 2017) zu begreifen ist.

Aufgrund dessen setzt sich der folgende Artikel zum Ziel, die transgressiven Genderräume in Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica 30. einer Analyse zu unterziehen. Daher lässt sich darüber fragen, welchen ästhetisch-poetischen Stellenwert diese geschlechtlich konfigurierten Räume dabei aufweisen.

1. Zur Raum-Gender-Korrelation

Aus soziologischer Sicht und der berühmten Aussage Virginia Woolfs1 (Woolf, 2012: S. 6) zufolge wird der Raum sozial konstruiert und durch Praktiken angeeignet. Das Geschlecht gilt als soziale Konstruktion, die sowohl normiert als auch performativ hervorgebracht wird.

Als soziale Konstruktion kommt die Kategorie des Raums zunehmend auch in ihrer wechselseitigen Verknüpfung mit der Kategorie Geschlecht bzw. Gender in den Blick. Es besteht ein Zusammenwirken zwischen den beiden Kategorien. Räume werden laut Sybille Bauriedl nicht geschlechtsneutral aufgefasst (Vgl. Bauriedl et al., 2010: S. 10). Auf diese Weise kommen Räume als „gendered“ (Yüksel, 2017: S. 64) bzw. vergeschlechtlicht zustande. Der Raum wird als machtdurchdrungene Kategorie sozialer Ungleichtheitsverhältnisse begriffen. Der Erstere erscheint gleichermaßen im Text als „Plattform“, auf der soziales Leben sich abspielt (Vgl. Fredrich et al., 2007: S. 56):

„[...] habe ich deshalb das Maple Walnut ausgegessen, weil es klar ist, dass der Gerhard nicht mehr, ich kann ihn nicht mehr in der Wohnung haben, er kann da nicht mehr sein, [...], da müsste man einen eigenen Ort haben, einen gesonderten Ort, [...]. (Jessica 30.: S. 62)

Das in der vorigen Passage dargestellte „Raumnetz“ ist Ausdruck für eine spatiale Ordnung, die soziale Strukturen zugleich mitreflektiert (Vgl. Fredrich et al., 2007: S. 57). Während unterschiedliche ForscherInnenden Fokus auf das „doing gender“ richten, ist der „doing space“ (Rose, 1999: S. 247) um den performativen Charakter des Raumes in den Mittelpunkt zu rücken. Im Anschluss daran treten Raum und soziale Prozesse in eine gegenseitige Wechselwirkung zueinander. In Bezug auf diese Raumordnung handelt es sich laut Hallet/Neumann um eine identitätsstiftende Subjektkonstitution:

„Die wechselnden Verortungen von Figuren im Raum sind selbst bedeutungs- und identitätsstiftende Akte, bei denen die kulturellen Wissensordnungen und gesellschaftlichen Hierarchien, die mit diesen Räumen verbunden sind, ständig neu gesetzt, reflektiert oder transformiert werden. In diesem Prozess werden Räume über körpernahe Sinnesmodalitäten mit individueller Bedeutung aufgeladen und zu Bezugsgrößen eigener Subjektivität gemacht. (Hallet/ Neumann, 2009: S. 25)

Nach Judith Butlers Auffassung von der Körpermaterialität und deren Stellenwert in der Identitäts- und Subjektkonstitution, schlägt Materialität hier eine Brücke zwischen dem Raumkonzept und einem diskursiven Verständnis von Geschlecht (Vgl. Butler, in: Rose, 1999: S. 67). In diesem Sinn besteht eine Verbindung zwischen Raum und Individuum, und diese wird u.a. als körperlich konzipiert. Räume erweisen sich damit als erfahrbare soziale und emotional beladene Strukturen, in denen man Angst, Unbehagen und Geborgenheit empfindet. Im Folgenden ist Jessicas Angst erkennbar, wobei es sich sogar um die Verräumlichung ihrer Psyche handelt: „[...]das macht geil, Kehle, Fut, es macht ein klingelndes Geräusch da, aber es ist genau das, was mich abschreckt, was mir Angst macht, [...].“ (Jessica 30.: S. 106). Im Roman ist von Raumaneignung die Rede, die wiederum geschlechtsspezifisch fungiert: Während Jessicas Liebhaber bzw. Gerhard dem öffentlichen Bereich gehört, wäre der klischeehafte vermeintliche Existenzort der Frau bzw. dessen Gemahlin das Haus. Diese topografische Konfiguration erscheint im Sinne von hierarchischen „Tat-Orten“ (Vgl. Rose, 1999: S. 69), in denen sich soziale Strukturen treffen. Jene Geschlechterordnung bzw. das daraus hervorgehende Machtverhältnis scheint für die Autorin sogar programmatisch zu sein:

„[...] und was ist das, dass mir das trotz aller Klarheit schwer fällt, natürlich ist das die Wirkung von Hegemonialität, das ist Macht, da reicht die Wirkung bis in die kleinste Entscheidung, die damit zu tun hat, die an die Mächtigen streift, ich bin nicht frei, [...].“ (Jessica 30.: S. 182)

Ebenso bedeutend sind laut Gökçen Yüksel Raumordnungen für die Projektion und Reproduktion von Geschlechterverhältnissen und Gewaltdiskursen (Vgl. Yüksel, 2017: S. 12). Diese sind auch als Projektion für psychoanalytische Elemente zu verstehen. Das Bett, das im Folgenden signifikante Darstellung findet, fungiert als „konflikthafter“ Intimitätsort. Es geht dabei eigentlich um die Enttabuisierung sadomasochistischer Praktiken im Haushalt. Mia, Jessicas Freundin hat beispielsweise eine Geschichte über Gerhard geschrieben, in der sie ihre Vergewaltigung nacherzählt. Eine Ökonomie der Geschlechter ist daran u.a. erkennbar:

„[...] Rapunzel, ans Bett gefesselt, muss auf den Prinzen warten, kann das für ihn ein Spiel geblieben sein, weil alles für ihn funktionieren muss, oder wollte er das alles, was er mit den Huren macht, wollte er das einem ordentlichen Mädchen beibringen, wollte er sie sich hinbiegen, sollte er sie abhängig werden, von ihm, nach ihm, hat er gedacht, sie wird das durchmachen und danach wird sie eine Wiederholung wollen, dann ist die Depression von der Mia ja auch eine gesunde Reaktion, brechen, wollte er sie sich brechen, wie ein Pferd, [...].“ (Jessica 30.: S. 222)

In der vorigen Schlüsselpassage wird deutlich, dass Raum stets auf eine Machtdimension systematisch angewiesen ist und somit eine politische Dimension impliziert. Gerhard, Jessicas Liebhaber, der hier zu Wort kommt, wird als Autokrat dargestellt, der seine Macht ostentativ zeigt, nämlich als Archetyp patriarchalen Totalitarismus. Mia gilt wiederum als Opferfigur, da sie von ihm ständig vergewaltigt wird. Mia hat, wie bereits erwähnt, ein Buch über Gerhard geschrieben, indem sie ihn denunziert. In der folgenden Textpassage werden zudem Zensurmechanismen kritisch thematisiert:

„Mein liebes Fräulein Somner, jetzt werde ich Ihnen einmal etwas sagen. Ich sehe schon, dass mit Scherzen die Sache nicht zu bereinigen ist. [...] Deshalb warne ich dich. Ich habe keine Ahnung, was du weißt, oder was du zu wissen glaubst, aber eines kann ich dir raten, misch dich nicht ein. [...] Wahrscheinlich hat die gute Mia eine tränenreiche Geschichte über Verfolgung und was weiß ich geschrieben. [...] und eines kann ich dir auch bestätigen, dieses Buch wird nicht erscheinen. [...] Ich bin ein Macher. (Jessica 30.: S. 167f.)

Für die gender-orientierte Narratologie erweist sich der erzählerische Raum als bedeutende Kategorie für Geschlechterkonstruktionen. Der Raum, in dem sich die Protagonistin Jessica befindet, verweist stark auf ihre soziale Realität. Parallel zu äußeren Räumen werden mentale Gegenräume im Text entworfen, in denen Jessica innere Freiheit erlangen kann, wobei sie verschiedene Identitäten und Fantasien erprobt und demnach patriarchal vorgeschriebene Normen ablehnt. Es ist von der Affirmation einer Antinorm die Rede:

„[...] mir ist es so scheißegal, ob ich im System drinnen bin, ich bin wirklich ein alien, und ich werde es auch nicht schaffen, nicht so, ich bin zu unabhängig, es ist mir dann doch wurscht, es ist mir dann am Ende doch wurscht, ob ich dazu passe, ich strenge mich an, ich strenge mich schon an, aber dann ist es mir auch gleichgültig, [...], und das kommt wahrscheinlich, weil ich von einer Frau allein erzogen worden bin, [...]. (Jessica 30.: S. 123)

Die mentalen Räume, in denen Jessicas Psyche projiziert ist, beruhen auf analeptischen und proleptischen Erinnerungen sowie auf Versuchen, den Weg der Selbstbestimmung zu wagen. Sie gewinnt somit ein Moment eigener Identitätskonstruktion. Diesbezüglich ist eine psychoanalytische Dimension in folgender Schlüsselstelle erkennbar, wobei die Rolle des Vaters negiert wird. Es handelt sich um eine Art Verräumlichung des Psychischen sowie um die Affirmation einer weiblichen Innerlichkeit:

„[...] heute würde ich Fragen stellen, mein Gott, wie lange das dauert, bis man beginnt, Fragen zu stellen und nicht alles so hinnimmt, und dann dauert es noch einmal so lang, bis man die richtigen Fragen stellen kann, und dabei habe ich noch besonders gute Voraussetzungen, fast ideal, ich bin ohne Vater aufgewachsen, Vaterrepräsentanz, das hat es nicht gegeben, [...]. (Jessica 30.: S. 196)

Jessicas Emanzipationsversuche finden in räumlichen Versetzungen Ausdruck, die mit eigenen Schwierigkeiten und Konflikten verbunden sind. Hier geht es eigentlich um eine Korrelation zwischen Raumerfahrung und Identitätskonstitution. Aufschlussreich für die Geschlechterproblematik und Erzählliteratur ebenso wie für die sich wandelnde Position der Frau in der Gesellschaft wird der Ort der Arbeitswelt in Streeruwitz’ Text demensprechend repräsentiert. Darin wird schon bekanntgegeben, dass Jessica als Journalistin beruflich tätig ist. Aus institutioneller Sicht wird ein geschlechtlich-bestimmter Raum erkennbar, indem dieser Bereich männlich dominiert wird. Folgende Textpassage verweist außerdem auf einen Selbstreflexivitätsraum, indem die narrative Instanz bzw. das Subjekt der LeserInnen mit in den Fiktionsraum einverleibt: „[...]ich werde der Claudia das verkaufen, ich bin die richtige Autorin dafür, ich will es selber wissen, ich nehme die Leserin auf eine Forschungsreise mit, [...]“ (Jessica 30.: S. 11). Journalismus gehört, wie bereits erwähnt, zu einer von Männern dominierten Berufskategorie. Jessica hat Angst ihre Arbeit als Journalistin zu erledigen, weil die Kriterien dieser Karriere androzentrisch scheinen:

„[...]und ich schaue bei der Claudia total aufgeschwemmt aus und sie fragt wieder, was mit mir los ist und schaut so, als wäre ich auf der schiefen Bahn und nicht mehr vertrauenswürdig, ich glaube, es ist ihr sehr wichtig, dass die ganze Redaktion so aussieht, wie sie, sie möchte eine richtige Tussenriege und alle sollen so sein, wie die ideale Leserin, 30, attraktiv, unabhängig und gut verdienend, [...]. (Jessica 30.: S. 14)

Durch Claudia Springer, die Chefredakteurin der Frauenzeitschrift im Roman, erkennen wir eine gewisse Autorität und männlich-patriarchale Tradition, als inkarniere sie diese Letzte. Jessicas Arbeitschancen hängen von ihrem Aussehen ab, indem sie immer fit und attraktiv sein muss und sich sexistischen Attraktivitätsnormen anpassen. Demnach ist von ihrer Fetischisierung die Rede. Claudias Erwartungen gegenüber Jessica ähneln denen eines Mannes gegenüber einer Frau in der patriarchal-diskriminierenden Gesellschaft: „[...] und die Claudia wird wieder sagen, ›Ich will dich nur in Hosenanzügen sehen, Issi, nur in Hosenanzügen, mit deinem sportlich-eleganten Auftreten, bist du das absolut business-Typ.‹“ (Jessica 30.: S. 18).

Darüber hinaus liegt eine Spannung zwischen den beiden Geschlechtern in der Arbeitswelt. In Anlehnung an Marlene Streeruwitz’ Poetik-Vorlesung handelt es sich bei Claudia um das Problem der Weitertradierung männlichen Blicks. Es ist allerdings ein Plädoyer für einen „Gegenblick“, eine andere Perspektive:

„Wenn Frauen keinen Blick haben, dann können sie nichts sehen. Dann gibt es nichts zu beschreiben. Wenn also das Gesehene über den Männerblick wahrgenommen wird, dann kann dieses Gesehene auch nur mit der Männersprache beschrieben werden. Alles geborgt. Alles geliehen. Aus zweiter Hand. (Streeruwitz, 2014: S. 25)

Die historischen Gender Studies legen allerdings nahe, dass die Geschichte von Frauen im Journalismus beispielsweise als Eigengeschichte der Frauen im selben Bereich zu konzipieren ist. Sie gilt in diesem Sinne als Repräsentation einer konkurrierenden Wirklichkeit, die gleichermaßen in Bezug und in Abgrenzung zu Wirklichkeitsbeschreibungen des (Männer-)Journalismus zu konstruieren ist (Vgl. Kinobrock, 2005: S. 105). Marlene Streeruwitz zielt damit darauf ab, durch die Verortung von Jessica als feministischer Journalistin über die eigene Geschichte von Frauen zu schreiben und das Schweigen zu überwinden. In der folgenden Textstelle geht es wiederum um Mia, deren Geschichte Jessica zu rekonstruieren versucht. Hier handelt es sich um eine Projektion auf Autoritätsräume im Bereich der Publizistik. Außerdem impliziert diese Passage auch Autofiktion, die das Autor(in)-Sein somit existenziell und poetologisch affirmiert. Das Manuskript als Genre-Referenz gilt hierfür als Zeichen:„[...] der Gerhard geniert sich für gar nichts, ich werde ihm das Manuskript hinlegen und fragen, ob er das ist, dann muss er wenigstens sagen, ob er die Mia gekannt hat, ob er sich an die Mia erinnert, [...].“ (Jessica 30.: S. 94).

Jessicas journalistische Wirklichkeitssuche wird weiterhin durch eine Spurensuche rekonstruiert: „[...]die erste Frage, hat er die Mia gekannt, [...] am besten wären Spuren von ihm in der Wohnung gewesen, aber die kann man nach so langer Zeit, das kann man vergessen, [...].“ (Jessica 30.: S. 99). Die Wohnung, die bereits in der vorigen Textstelle Erwähnung findet, fungiert als rekurrenter Inszenierungsort: Dieser scheint ambivalent, indem er einerseits für Jessica als sicherer Schutzraum bzw. als Refugium fungiert. Andererseits gilt er für Mia paradoxerweise als Sinnbild für brutale Gewalt:

„[...] und ohne die Wohnung, ohne dieses Inselchen, es war schon richtig, ich bin ein Einzelkind, das merkt man eben, ich kann in der Wohnung sitzen und brauche niemanden, nur die Sicherheit, dass es diesen Platz gibt, dass ich mich sicher fühle, geschützt, vor Gerüchten, [...]. (Jessica 30.: S. 29)

Die Räume, von denen Jessica erzählt, sind mit patriarchalen Machtpraktiken eng verbunden. Das Ich erweist sich dabei als polyphon und intersubjektiv, da es dessen der Autorin selbstreflexiv inkludiert. Das Wir-Pronomen hingegen bezieht sich auch auf Gerhard. Hier ist von einer Aneignung des kollektiven Subjekts als Macht- und Normaffirmation die Rede, das aber auch einer Exklusivität ausgesetzt scheint. Das Pronomen ist ambivalent: „Jetzt im Moment kann ich mein Leben nicht verändern und ich muss dir auch sagen, ich will auch gar nicht. Wir sind an der Macht.“ (Jessica 30.: S. 169).

2. Die Verkörperung und Verspiegelung des Raums

Marlene Streeruwitz dekonstruiert mittels Jessicas Stimme die Reduzierung der Frau auf ihren Körper, was hier durch Jessicas Joggen und Schminken zu interpretieren ist. In Anlehnung an Michel Foucault sind Maskieren, Tätowieren und Schminken Tätigkeiten, durch die der Körper aus seinem eigenen Raum herausgerissen und in einen anderen Raum versetzt wird (Vgl. Foucault, 2017: S. 32). Jessica (ver)weigert sich ihren Körper dem Willen eines Mannes zu unterwerfen, wie es in der patriarchalen diskriminierenden Gesellschaft üblich ist, was durch die Claudia-Figur erneut personifiziert wird. Sie scheint dieser Tradition blind zu folgen, was eine Indifferenz patriarchaler Praktiken provokativ indiziert. Jessicas „fetischierter“ Körper gilt als Opferkategorie für ihre Karriere als Journalistin und deren Erfolg. Mit „Verweigerung“ wird ein „passiver“ Widerstandsgestus wahrnehmbar. Im Folgenden ist das Motiv des Spiegels als heterotopischer und psychoanalytischer Projektionsraum zu verstehen: Er fungiert einerseits als Metapher für den Tod und andererseits als Symbol für Eitelkeit und Wahrheit (Vgl. Graf, 2013: S. 1):

„Es geht doch nicht ohne Wimperntusche, sonst bin ich ja gar nicht zu sehen, und ich sollte doch ins Sonnenstudio, [...] schön cool bleiben, und eine ruhige Hand für die Wimperntusche, Wimperntusche ist so schlimm wie rasieren, und es ist ja gleich, irgendwie, man starrt in den Spiegel, man muss ewig sich selber zusehen, und aufpassen, dass nichts schief geht, und dieser Widerwille wird nur dazu führen, dass du dir wieder in die Augen fährst und dann mit einem rot verquollenen Auge dasitzt und zugeben musst, dass du das Einmaleins der Frauen nicht beherrschst, ich kann ja mit der Claudia diskutieren, ob dadurch die weibliche Identität in Frage zu stellen ist, wenn ich meinen Körper nicht auf weiblich herrichten kann, bin ich dann überhaupt eine Frau, es ist ja eine Verweigerung, [...]. (Jessica 30.: S. 77f)

Jenes Körpermotiv wird demzufolge als Projektionsraum hochstilisiert. Dabei handelt es sich um Entgrenzung bzw. Transzendierung des eigenen Körpers: „[...]vielleicht stimmt es ja, dass ich meinem Körper nicht vollkommen vertraue, vielleicht weiß der Körper ja wirklich mehr als ich und ich bin nur zu ängstlich, [...].“ (Jessica 30.: S. 67).

Jessica erweist sich somit als körperbewusste Frau, da deren Ästhetik ihr sowohl in der Karriere als auch in ihrem Privatleben unentbehrlich ist. Wegen strenger anspruchsvoller Erwartungen gegenüber Frauen muss sie ihre wahren Sehnsüchte verdrängen und verinnerlichen d.h. zugunsten jener Erwartungen. In ihrem Leben scheint alles verboten zu sein: „[...] ich esse ja erst, seit ich allein in der Wohnung sitze, ohne Kontrolle, ich muss niemandem sagen, dass ich jetzt etwas esse und warum, das Maple Walnut hätte ich der Tanja nicht klarmachen können, [...].“ (Jessica 30.: S. 55).

Marlene Streeruwitz zeigt durch Jessicas körperliche Obsessionen, wie Frauen in der Arbeitswelt lediglich auf ihren Körper reduziert sind, und was dies eigentlich in ihrer Psyche verursacht: „Ich möchte auch jeden Mann schreiben können, ich möchte jede Transgenderbiografie schreiben können, ich möchte überhaupt alles schreiben können. Und nicht darauf beschränkt sein, in meinen weiblichen Körper zurückgestoßen zu werden.“ (Streeruwitz, 2020).

Außerdem werden im Roman Räume körperlicher Gewalt geschildert. Die Szene, die in der folgenden Textpassage vorkommt, fungiert als Ort der geschlechtlichen Differenz, indem der Mann bzw. Gerhard als Gewalttäter und Machtinstanz symbolisiert wird. Mia hingegen gilt als unterdrückte Figur:

„[...] ob dieser Mann wirklich der Mann ist, den meine Freundin Mia in einem Bericht beschuldigt, sie ein Wochenende lang an ihr Bett gefesselt zu haben und sie auch auf inständige Bitte erst nach 2 Tagen losgebunden und ihr in der Zwischenzeit nur Wasser gegeben zu haben und sie sonst sich selber überlassen, und dazu kann man ja nicht aufwachen, [...]. (Jessica 30.: S. 117)

Der Körper wird durch unterschiedliche Formen von Gewalt und Macht kontrolliert und reglementiert, aber auch dressiert. Judith Butler redet in diesem Zusammenhang von der Materialität bzw. Materialisierung des Körpers (Vgl. Butler, 2017: S. 21f).

3. Grenzüberschreitung der männlichen Ordnung

Jessica schafft sich Räume der Grenzüberschreitung, mittels derer das patriarchale System in Frage gestellt wird. Sie denunziert die Mechanismen seiner Hierarchie: „[...] ich lebe also nun bald 30 Jahre und immer gibt es diese alten Herrschaften, die Hüte tragen, und es können ja nicht immer die Gleichen sein, [...].“ (Jessica 30.: S. 31).

Im Laufe der Erzählung entstehen ebenfalls Zwischenräume, die gegen das Vergessen, Verbotene und Unausgesprochene fungieren. Streeruwitz dekonstruiert durch Jessicas Stimme sozusagen das archaische Gesellschaftssystem, das durch Gerhard verkörpert ist, da er Frauen zu einem Nichts reduziert, was durch Jessica und Mia personifiziert wird. Darüber hinaus kommt ein Enttabuisierungsgestus zustande: Das Schloss, das in der folgenden Textstelle erwähnt wird, gilt als Raumzeichen, das auf eine Geschlechterproblematik implizit verweist. Mit Issi Somner wird Jessica intersubjektiv gemeint:

„Issi Somner, tank girl Lois Lane zieht in die Welt hinaus und nimmt den Kampf mit den bösen Kräften auf, Jessica Somner dekonstruiert Gerti Senger und gibt den Frauen den Orgasmus zurück, obwohl, das könnte man nur mit Verboten, würden strenge Verbote die Sache wieder anheizen, ich sollte ein zweites Schloss montieren lassen, [...].“ (Jessica 30.: S. 86)

Marlene Streeruwitz plädiert für die Sichtbarkeit der Frau, nämlich im Zeichen eines Willen zur Wahrheit (Foucault, 2014). Jessica versucht mit allen Mitteln die Wahrheit über Mias Vergewaltigung zu beweisen und diese Tat zu enttabuisieren:

„[...] und dann noch dieses Racheverbot, es ist doch glatt ein Bestandteil meiner Identität, dass ich fair sein werde, [...], wie ein kleiner Bub, der jeden Tag vom Klassenwiderling geschlagen wird und deshalb daran glauben muss, dass alles fair abläuft, [...] warum ist der Weg zur aufgeklärten Frau mit dem Verlust der weiblichen Subversion verbunden, [...] ich will diesen Mann zerstören. (Jessica 30.: S. 183)

Die Formen jener Grenzüberschreitung sind im Roman vielfältig. Dadurch wird die Selbstreflexivität der Autorin zugleich artikuliert.

Schlussfolgerung

In Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica, 30. werden signifikante Räume dargestellt, die eine kategorische Geschlechterdifferenz reflektieren. Die Ersteren wirken zugleich gegen tradierte Mechanismen des Vergessens und des Verbotes. Marlene Streeruwitz will auf diese Weise eine neue Geschichtsschreibung fundieren, indem vergessene, „okkultierte“ Frauenstimmen bzw. ihre Subjekte rehabilitiert werden. Mittels der jeweiligen Heterotopien, die sich im Text als Performativitätsräume erweisen, vollzieht sich eine Suche nach „Gegenwahrheiten“, aber auch nach Emanzipation und Identitätskonstruktion. Durch die räumlichen Kategorien Körper, Geschlecht und Arbeitswelt des Journalismus werden das Frauenbild bzw. die emanzipierte Frau – und somit dessen inhärente Identitätsfrage – in den Mittelpunkt der Reflexion gesetzt. Streeruwitz’ Roman verwandelt sich auf diese Weise in einen vielschichtigen Diskursraum. Darüber hinaus ist von transgressiven und subversiven Gegendiskursen und Gegenräumen die Rede. Streeruwitz’ Text lässt sich demnach als Dekonstruktion männlich-patriarchaler Paradigmen ebenso wie Überschreitung tradierter, fester Grenzen der archaischen geschlechtlichen Ordnung verstehen.

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1 „Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte.“. Woolf, Virginia. Ein Zimmer für sich allein. Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart, 2012, S. 6.

Souad Rersa

Université Alger 2 جامعة الجزائر

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