Erst Geschichtsschreibung schafft Geschichte. Geschichte ist keine Realität, sie ist ein Zweig der Literatur (Haffner 2001: 23)
Einleitung
Die oben auf den deutschen Schriftsteller Sebastian Haffner zurückgehenden Worte deuten darauf an, dass der wechselbezügliche Zusammenhang zwischen Literatur und Geschichte aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen Fiktionalität und Faktum erfasst werden kann. Jenes Wechselspiel konstituiert eine ästhetische und poetische Rekonstruktion der Geschichte in literarischen Texten, die seit den achtziger Jahren mit den neueren interdisziplinären, kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen u.a. dem New Historicism als machtvolle, kulturanthropologisch ausgerichtete Interpretationsrichtung ergriffen wurde (vgl. Nünning 2013: 567). Hierbei werden einerseits literarische Texte mit anderen (nicht-literarischen) Texten, ihren kulturellen Praktiken und ihrer historischen Zirkulation verbunden (Vgl. Nünning 2004: 197). Andererseits wird Geschichte zu Material poetischer Re- und Neukonstruktion sowie mit den Phänomenen der Kultur und des Gedächtnisses in Verbindung gesetzt. Daten und Fakten stehen in keinem Gegensatz mehr zu poetischer Invention, sondern werden in diese aufgelöst, mit ihr und für sie instrumentalisiert (Vgl. Köppe/ Winko 2013: 224).
Solche Neuerschaffung der Geschichte hat Daniel Kehlmann in seinem 2017 erschienenen Roman Tyll dargestellt, der über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert berichtet, wo Phantasie und Wirklichkeit auf demselben Punkt aufeinandertreffen. Es handelt sich dabei nicht lediglich um eine Till-Eulenspiegel-Biografie1 über den legendären Gaukler, sondern zudem um eine Rekonstruktion des Lebens des fiktiven Charakters Tyll und des Dreißigjährigen Krieges. In diesem Zusammenhang werden Tyll sowie reale Charaktere, u.a. der fanatische Jesuit Tesimond und der weltweise Athanasius Kircher, in fiktiven oder auch faktischen Situationen in der Handlung verwoben.
Die daraus resultierenden Grenzziehungen zwischen Fiktionalität und Faktum sowie zwischen etablierten und marginalisierten Diskursen werden dementsprechend beim New Historicism in den Vordergrund der Reflexion gesetzt (Vgl. Nünning 2013: 280). Dazu unterscheidet sich dieser Ansatz mittels seines innovativen Gehalts und kritischen Selbstverständnisses von konventionell historischen Ansätzen u.a. vom Old Historicism (Vgl. Eggert/ Profitlich 1990: 57), weil seine repräsentativen Texte mit „kultureller Energie“ beladen sind (Vgl. Nünning 2008: 134). Das heißt, dass die Signifikanz eines Textes nicht nur im Kontext liegt, sondern auch in der Überschreitung der Grenzen nicht-literarischer Diskurse bzw. historischer oder kultureller Kontexte, in denen er gelesen werden kann. Daher liegt das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Aufsatzes darin, die Wechselbeziehung zwischen Fiktionalität und Geschichtlichkeit sowie zwischen Tragischem und Komischem in Kehlmanns Historiografie zu reflektieren. Zudem lässt sich fragen, inwiefern Kehlmanns historiografisches Schreiben eine textuelle Grenzziehung sowie ein heterochronisches bzw. anachronistisches Spiel intendiert und wie die Kontextualisierung historischer Tatsachen in Tyll dem Leser ermöglicht, eigene kontextuelle und kulturelle Grenzen zu ziehen.
1. Tyll, ein heterochronischer und anachronistischer Text
Kehlmann verbindet in Tyll facettenreiche fiktive und reale Figuren mit sich historisch entfaltenden Konflikten. Zudem inszeniert er sie anachronistisch in Raum und Zeit. Hierfür fungieren Räume als Projektionsflächen für das Phantastische und Heterotopische, wobei Tyll während des Krieges verschiedene Städte und Wälder durchquert, wie es folgende Schlüsselpassage evoziert:
„‚Kriegst mich nicht‘, hörten sie ihn kichernd sagen, ‚ich kenn den Wald. Ich bin Waldgeist geworden, als ich ein kleiner Junge war.‘ ‚Ein Waldgeist ?‘, fragte der dicke Graf beunruhigt. ‚Ein weißer Waldgeist.‘ Ulenspiegel trat lachend aus dem Gebüsch. ‚Für den großen Teufel‘.“ (Tyll, S. 189)
Insofern fühlt sich Tyll wie ein „Waldgeist“, da er den Wald seit seiner Kindheit bestens kennt. Der Wald fungiert laut Foucault als heterotopischer Raum bzw. als natürlicher Raum des Ursprünglichen, wo man sich verbergen kann (vgl. Foucault 2014: 10). Demzufolge verbindet Foucault mit seinem Heterotopie-Konzept den Begriff ‘Raum’ in einem kausalen Verhältnis zu ’Zeit’. Sein Ansatz zeigt, dass Heterotopien oft mit besonderen zeitlichen Brüchen verbunden sind bzw. mit der Heterochronie verwandt (Foucault, in: Nünning 2013: 303). Erstere können erst zustande kommen, wenn die Menschen einen Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben. Dinge aus der Vergangenheit werden angehäuft und miteinander konfrontiert (Vgl. Dander 2014: 58). Demgemäß sind Heterochronien Momente der Unterbrechung in der Zeit, die es ermöglichen, dass Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen und miteinander in Spannungsverhältnis treten können. Dies zeigt sich in dem Roman durch Rückblenden, genauer in dem zweiten Kapitel, in dem Szenen aus Tylls Kindheit dargestellt werden, die durch Analepsen anachronistisch rekonstruiert werden. Diese Idee kann anhand verschiedener Textpassagen im Roman veranschaulicht werden u.a. der folgenden Textstelle, die die Erinnerung Tylls an eine Szene aus dem Krieg schildert:
„Tyll erinnert sich an gestern, oder war es vorgestern ? Der Angriff, bei dem der Leutnant getötet worden ist. Plötzlich das Loch in der Wand des Schachts, plötzlich Messer und Schreien und Knallen und Krachen, ganz tief in den Dreck hat er sich gedrückt, einer ist ihm auf den Rücken getreten, und als er wieder den Kopf gehoben hat, ist es schon vorbei gewesen.“ (Tyll, S. 356)
Dieser Rückblick gilt als Wiedergewinnung des Vergangenen (Vgl. Angehrn 2017: 91). Zudem werden Zeitsprünge und Erinnerungen anderer Figuren auch zwecks Aktualisierung historischer und kultureller Komplexe in den Mittelpunkt gerückt. Es handelt sich darum ; „das Vergangene als Gegenwärtiges aufzuerwecken und es in einer zeitlosen Aktualität wiederherzustellen.“ (Ebd.: 92).
Jene Art von Erinnerung ermöglicht, die Vergangenheit als Aufhebung zeitlicher Grenzen wieder zu erleben (Vgl. Ebd.: 89). Demnach verleiht Kehlmann einem vergangenen Zeitalter Realismus und zugleich zeitlose Relevanz. Des Weiteren, genauer im dritten Kapitel, beschreibt die fiktive Figur Graf Wolkenstein eine Szene über den Krieg, die sich durch Wortspiele auszeichnet und auf Grimmelshausens Simplicissimus2 Bezug nimmt, nämlich als ein intertextuelles bzw. poetologisch metatextuelles Verweisspiel sowie als reflexives Moment. Zudem geht es hier um eine Analogie in der Figurencharakteristik zwischen Tyll und dem „Simplicius Simplicissimus“, da beide als historische Antihelden gelten:
„In einem beliebten Roman fand er eine Beschreibung, die ihm gefiel, und wenn Menschen ihn drängten, die letzte Feldschlacht des großen deutschen Krieges zu schildern, so sagte er ihnen das, was er in Grimmelshausens Simplicissimus gelesen hatte.“ (Tyll, S. 196).
Diese Szene ist außerdem heterochron geprägt und auf die letzte Schlacht des Krieges angewiesen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Heterochronie als „Ort aller Zeiten“ fungiert (Günzel 2010: 303), wo Raum und Zeit ebenfalls ständigen Wandlungen unterliegen und mit- und ineinander verwoben sind. Diesbezüglich entpuppt sich die Hauptfigur Tyll als Speicher und „Akkumulator von den Geschehnissen“ (Vgl. Ebd.: 303), der durch die Zeiten hindurchgreift und in jedem der acht Kapitel ständig auftritt. Dazu ist er eine aus dem Mittelalter stammende Figur, die in eine von Kriegen oder Konflikten geprägte Epoche in Erscheinung tritt. In der Geschichte flüchten die Bewohner oder werden getötet, während andere Zeugen der Zerstörung ihres Landes werden oder an der Pest leiden:
„Er hörte sich seufzen. Der Wind über ihnen ließ die Zeltplane knattern, draußen hörte er Männerstimmen, irgendwo schrie jemand, entweder ein Verwundeter oder ein Mann, der an der Pest starb, in allen Lagern gab es Pestkranke. Davon sprach keiner, denn keiner wollte daran denken, man konnte nichts dagegen tun.“ (Tyll, S. 251)
Hiermit werden Vergangenheit und Gegenwart der Figuren im Kontext historischer Fakten und fiktiver Ereignisse projiziert und stehen in einer absichtsvoll verfälschten zeitlichen Einordnung, mit Vor- und Rückwendungen aus der Sicht des Erzählers. Dies bedeutet, dass sie nicht im Gegensatz zur Poetik des Autors stehen, sondern in diese aufgelöst, mit ihr und für sie instrumentalisiert werden. Diese anachronistische Zeitkonfiguration als Konfliktentwicklung der Geschichte bietet eine historiografische Eigengesetzlichkeit dar, mit der frühere historische Geschehnisse und unterschiedliche Figuren einander gegenübergestellt bzw. miteinander verklammert werden. Somit handelt es sich um eine nicht-chronologische Inszenierung von Tylls „Reise“ in Raum und Zeit. Bereits am Anfang des Romans betont der Autor den bildhaften Blick der Auswüchse des Krieges, wo eine Vorausdeutung der Ereignisse bzw. Prolepsen vorkommt:
„Und ein gutes Jahr später kam der Krieg doch zu uns. Eines Nachts hörten wir es wiehern, und dann lachte es draußen mit vielen Stimmen, und schon hörten wir das Krachen der eingeschlagenen Türen, und bevor wir noch auf der Straße waren, mit nutzlosen Heugabeln oder Messern bewaffnet, züngelten die Flammen.“ (Tyll, S. 24)
Auffallend in diesem Textauszug als narrativem Spiel ist der Realismus-Effekt der detailliert beschriebenen Szenen aus dem Krieg z. B. das Geräusch der aufgebrochenen Türen. Weiterhin ist hier der Einsaz des Wir-Pronomens als Element für Dialogismus und Polyphonie im Sinne Bachtins (Vgl. Nünning 2013: 135), aber auch als Entgrenzung der Personenkategorie und des historischen Subjekts. Mit jenem narrativen Wir-Modus einigen sich demnach Autor, Erzähler und Leser in der Zeit bzw. ihre Zeitebenen schmelzen ineinander (Vgl. Prak-Derrington 2006: 10).
2. Die Fiktionalisierung der Geschichte als Jenseits der Fakten
Der historische Roman Tyll zeigt, wie die Einbeziehung von literarischen Aspekten wie Charakterentwicklung und Dialogen dazu beiträgt, Geschichte lebendig und ansprechend zu präsentieren. Die Fiktion „ergänzt“ die Fakten und ermöglicht es, historische Ereignisse auf eine Art und Weise zu vermitteln, die vom Leser ein tieferes Verständnis erfordert. Wie bereits verkündet, thematisiert Tyll grundsätzlich den metahistorischen Aspekt von Geschichtsschreibung und Erfassung historischer Vergangenheit, wo die Diegese in einem Spannungsverhältnis mit der Fiktion steht und eine Konstellation von realhistorischen sowie erfundenen Figuren u.a. dem Schriftsteller Martin von Wolkenstein, dem Henker Tilman und Pirmin sowie dem exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen in der Handlung miteinander inszeniert. Dies verleiht dem Text zugleich Phantasiemomente. Tyll begegnet den meisten Figuren und tritt überall, aber verschwindet dann sogar schnell wieder. Dazu ist Tylls Schicksal eng mit dem Krieg verbunden und wird von ihm stets konditioniert. Auf diese Weise dient der Krieg als kontextueller Hintergrund für Tylls Erfahrungen und prägt sogar seine Weltsicht.
Trotz des gewaltsamen und zerstörerischen Charakters des Krieges, erlebt Tyll euphorische Momente und der Geselligkeit, die die Komplexität menschlicher Erfahrung im historischen Kontext veranschaulicht. Diese Ambivalenz gilt nicht als „Täuschung“, sondern eher als Spiel mit historischer Präsenz, wo eine Abfolge von Ereignissen mittels poetologischer Mittel zustande kommt, bzw. wo die Geschichte in Textuelles umgewandelt bzw. fiktionalisiert wird. Hier sind Wesenszüge des New Historicism dementsprechend erkennbar, weil die Verquickung zwischen Literarizität und Historizität dabei als zentrales Paradigma firmiert wird. In dieser Hinsicht wendet der New Historicism sich nicht grundsätzlich gegen kanonisierte Texte, sondern re-kontextualisiert sie allerdings durch Vernetzung mit anderen, gleichzeitig parallelen Textquellen. Ziel ist eine Poetik der Kultur, die jene kulturellen Praktiken veranschaulicht, in deren Spannungsfeld Literatur entsteht (Vgl. Eggert/ Profitlich: 63), zu gründen. Greenblatt plädiert dafür, Texte und kulturelle Praktiken untereinander auszutauschen, und zwar im Sinne einer Verhandlung bzw. Zirkulation (Greenblatt, in: Ebd.: 59). Er bezieht sich wiederum auf andere Ansätze mit kulturgeschichtlicher Tragweite u.a. auf Cultural Materialism oder Postmoderne (Ebd.: 57).
Des Weiteren theoretisiert der New Historicism, wie literarische Werke in bestimmten historischen Momenten entstehen und wie sie von den sozialen und kulturellen Bedingungen ihrer Zeit geprägt werden. Dabei bedient sich Geschichtsschreibung narrativer bzw. rhetorischer Muster, da Geschichte als Narration betrachtet wird (Vgl. Baßler 1995: 12). Louis Montrose bringt diesen Aspekt auf die Formel, die inzwischen geradezu emblematisch für den New Historicism steht, wobei er von einer wechselseitigen Geschichtlichkeit von Texten‘ und ‚Textualität von Geschichte‘ spricht. Es wird somit die Reziprozität von Geschichte und Literatur zum Ausdruck gebracht (Nünning 2008: 229). Es geht nicht um ein bloßes historisches Kontextualisieren literarischer Texte, sondern um die gegenseitige Durchdringung von Literatur und außerliterarischer, historisch-kultureller Realität.
Von den vorigen Aspekten ausgehend stellt man fest, dass die Faktizität und Fiktionalität seines Textes somit raffiniert und dessen Historizität affiniert. Daher zeigt er ein entsprechendes Beispiel neuer Geschichtsschreibung in Verbindung mit seinem historischen Wissen sowie Phantasie. Dadurch wird eine Form der Hybridität geschaffen, bei der historische Fakten und fiktionale Elemente miteinander verwoben sind. In dieser Hinsicht ist von der Inszenierung und Rekonstruktion der Geschichte als kulturpoetischer Grenzziehung die Rede. Hier geht es schließlich darum, „Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ im Sinne Walter Benjamins (Vgl. Benjamin 1974: 697).
3. Tyll: ‚Historie‘ als Provokation der ‚Literaturgeschichte‘3 ?
Daniel Kehlmann hebt die herkömmliche Abgrenzung zwischen historischen Quellen und literarischen Texten in seinem Roman Tyll programmatisch auf. Viele fiktive sowie faktische Charaktere, Ereignisse und Orte treten in die Diegese und werden mit anderen Quellen intertextuell verbunden u.a. dem „Abenteuerlichen Simplicissimus“ von Grimmelshausen. Dieser intertextuell-spielerische Umgang mit Grimmelshausens Text durch die Stimme der Romanfigur Graf Wolkenstein wird in folgender Textstelle dargestellt, wobei er in seiner Autobiografie bzw. eine Biografie in der Biografie versucht, die Ereignisse der Schlacht von Zusmarshausen zu schildern. In dieser Hinsicht geht es um Metalepse als Grenzziehung zur Diegese im Sinne Genettes ( Vgl. Martínez/ Scheffel 2019: 84), wo eine komplexe Leserfigur konstruiert wird, bei der die Grenze zwischen Innen- und Außengeschichtlichem aufgehoben wird (Vgl. Ebd.: 93):
„In einem beliebten Roman fand er eine Beschreibung, die ihm gefiel, und wenn Menschen ihn drängten, die letzte Feldschlacht desgroßen deutschen Krieges zu schildern, so sagte er ihnen das, was er in Grimmelshausens Simplicissimus gelesen hatte.“ (Tyll, S. 196)
Der Ort Zusmarshausen betont die historische und kulturelle Tiefe des Romans und zeigt, wie die Handlung fiktive Elemente mit realen historischen Bezügen kombiniert, um die Erzählung vielschichtig zu beladen. Dies trägt zur Komplexität der Geschichte bei. In diesem Kontext problematisiert und dynamisiert Hayden White den Zusammenhang von historischem Faktum und literarischer Fiktion, der aus postmoderner Sicht eine bemerkenswerte Bandbreite von Formen historischen Erzählens hervorgebracht hat (vgl. White, in: Birnstiel/ Schilling 2012: 200-201). Dies zeigt sich in Tyll mittels Intertextualität, Metahistorie und Selbstreflexion als postmoderner Elemente, da der Roman ein korrelatives, ambigues Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und Fiktion problematisiert. Hierbei werden die historischen Geschehnisse durch poetologische Strukturen, fiktionale Darstellungsweisen und rhetorische Figuren geprägt, darunter romantische, komische, tragische und satirische Elemente. Je nach Herangehensweise des Historikers wird eine dieser literarischen Erzählweisen gewählt (Vgl. Eggert/ Profitlich: 70). Auf diese Weise entstehen in Tyll humorvolle, komisch-karnevaleske Szenen, besonders in Zusammenhang mit Tylls Streichen und Spaß:
„Was er könne, einem Spaßmacher von Rang, einem guten Jongleur, einem Schauspieler, der sich vor keinem habe verstecken müssen, aber vor allem sei er ein böser Kerl gewesen, so gemein, dass Nele ihn für den Teufel gehalten habe. Doch dann hätten sie begriffen, dass jeder Gaukler ein wenig Teufel sei und ein wenig Tier und ein wenig harmlos auch.“ (Tyll, S. 25)
Auffallend ist demnach Tylls Ambivalenz, der das Gute als Spaßmacher und das Böse mit „teuflischer“ Verhaltensweise zugleich verkörpert. Tyll schwankt immerhin zwischen Humor und Grausamkeit, da er Verluste des Kriegs erlebt und sich in eine tragikomische Figur verwandelt, die von der Katastrophe dieses Krieges schwer betroffen wird. Erwähnenswert ist hier, dass diese Elemente des Komischen sowie des Tragischen miteinander verflochten sind, wobei die verheerende Dimension jenes Krieges dadurch entschärft wird. Außerdem gilt Tyll als Muster für einen narrativen Text, der verschiedene Genres und Stile miteinander vermengt, aus denen eine heterogene und vielschichtige Erzählung hervorgeht. In diesem Sinn überlagern sich das Verstehen des gegenwärtigen Leserhorizontes mit dem historischen Horizont des Textes im Sinne Gadamers (Vgl. Reese: 33), dessen intersubjektive und interdiskursive Topoi aus rezeptionsästhetischer Sicht auch als dialogischer Ort zwischen Autor und Leser betrachtet werden können. Insofern stellt sich heraus, dass historische Momente eine provokative Appellfunktion erzielen, die einen impliziten historischen Leser (Ebd.: 30) heranrückt bzw. ein Spiel mit dem Erwartungshorizont des Lesers in den Vordergrund setzt, da Kehlmanns historiografisches Schreiben mittels eines ironischen Erzähltons jene Tatsachen auf unkonventionelle und provokative Weise repräsentiert wird. Daher lässt sich sagen, dass Tylls provokative Haltung als Appell an den Leser im Sinne Isers fungiert (Iser, in: Nünning: 230), da der reale Leser mit seinem konkreten historisch und soziokulturell bedingten Rezeptionshorizont von außen auf das Werk trifft und damit individuelle Konkretisationen schaffen sollte (Vgl. Ebd.: 231).
Kehlmann inszeniert weiterhin ein narratives Spiel mit dem Ziel, seinem Leser den von ihm erzielten Grenzziehungsprozess zwischen Fiktionalität und Historizität vor Augen zu führen, aber auch ihn daran zu beteiligen. Es geht um eine ironische Bezweiflung etablierter historischer Wahrheit, wobei historische Figuren sowie Ereignisse absichtlich in eine kontrafaktische Welt versetzt werden.
4. Zur Karnevalisierung als Grenzauflösungsmoment
Durch den Romantitel Tyll spielt Kehlmann mit der namentlichen Klangähnlichkeit der Hauptfigur Tyll Ulenspiegel in Bezug auf die Figur Till Eulenspiegel. Der Einsatz eines klangähnlichen Namens weckt möglicherweise historische Erwartungen beim Leser hinsichtlich der Interpretation des Titels und der Ereignisse des Romans, da Till Eulenspiegel eine legendäre Figur in der deutschen Geschichte ist und für ihre Streiche bekannt ist (Vgl. Bollenbeck: 259).
Diese von Kehlmann vollzogene Remythisierung der Tyll-Figur sowie die Rekontextualisierung des Dreißigjährigen Krieges versinnbildlichen nicht nur seinen historischen Fokus als oszillierendes Spiel zwischen Fiktion und Faktum, sondern auch eine Fiktionalisierung der Fiktion bzw. Metafiktion. In diesem Kontext schildert er im dritten Kapitel eine fiktive Biografie und Erinnerungslücken der Figur Graf Martin von Wolkenstein sowie seine Suche nach der letzten Feldschlacht des Krieges. Hier geht es um Fantasie und Textschöpfung bzw. die Vorstellungskraft Kehlmanns in der Zeitrekonstruktion und Interpretation historischer und fiktiver Handlungen. Insofern stützt sich der Autor auf alte Anekdoten als geschichtspoetische Assoziationselemente sowie auf historisch reale Angaben. Deshalb gelingt es ihm nicht nur mit Fiktionalität und Historizität spielerisch umzugehen, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart bzw. Geschichte in Form eines kulturgeschichtlichen Aktualisierungs- und Verquickungsspiels zu gestalten.
In diesem Sinn gilt Tyll als Jongleur sowie als Seiltänzer. In Anlehnung an Nietzsches Also sprach Zarathustra bezeichnet die Metapher des Seiltänzers ein Bild der Herausforderung und des Risikos, das mit einem Streben nach Überwindung und Weiterentwicklung verknüpft ist:
„Als Zarathustra in die nächste Stadt kam, die an den Wäldern liegt, fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markte: denn es war verheißen worden, dass man einen Seiltänzer sehen solle. Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden ?“ (Nietzsche, in: Schlechta 2012: 401)
Mittels seiner legendären Motivfigur veranschaulicht Nietzsche die Grenzüberschreitung traditioneller Normen. Zarathustra ermutigt die Menschen, ihre eigenen Grenzen und Beschränkungen zu überwinden als tiefere Sittliche Verbesserung der menschlichen Existenz. Tyll teilt gewisse Merkmale mit der berühmten Nietzscheanischen Seiltänzerfigur, wobei er einerseits mit dem Seil bzw. mit der angeblichen Linearität historischer Tatsachen spielt. Andererseits ruft er ein rebellisches Verhalten gegenüber der Gesellschaft hervor, aber auch gegen etablierte Machtstrukturen. Als der König ihn fragt, ihm seine Tricke beizubringen, verspottet ihn Tyll:
„‚Du bist von allein umgefallen‘, sagte der Narr. ‚Den Trick musst du mir beibringen !‘, rief der König. ‚Gleich wenn der Esel das Reden gelernt hat, will ich auch den Trick lernen.‘ [...] ‚Wenn einer wie du reden kann und wenn auch der dumme König dauernd redet, warum soll dann ein Esel nicht reden ?‘ Der König hätte dem Narren gern eine Ohrfeige gegeben, aber er fühlte sich zu schwach.“ (Tyll, S. 261)
Bemerkenswert ist hier die Ähnlichkeit Tylls mit dem Harlekin, der das niedrig Komische verkörpert. Dabei ist er seiner eigenen Verkehrtheit bewusst (Vgl. Lechtová 2012: 07). Anhand der Tyll-Figur lässt sich jedoch die Komödie in die Groteske verwandeln. Er ist ein Freigeist im Vorfeld der Grausamkeit, der trotz seiner persönlichen Verluste und seines tragischen Schicksals sorglos tanzt:
„Tyll tanzt, als hätte er es gelernt, er tanzt, als hätte sein Körper keine Schwere und als gäbe es kein größeres Vergnügen. Er springt und dreht sich und springt wieder, als hätte er nicht gerade erst alles verloren, und es ist so ansteckend, dass ein paar und dann noch ein paar und dann immer mehr von den Zuhörern ebenfalls zu tanzen beginnen.“ (Ebd.: 144)
Tyll bewegt sich entzückt und geschickt, als gäbe es keinen Krieg. Sein Körper scheint frei von Schweren und tanzt mit übertriebener, widersprüchlicher Euphorie, als wolle Tyll dessen Unerträglichkeit transzendieren, „exorzisieren“. Tylls Seiltänzerkunst ruft eine Überwindung sozial etablierter Verhaltensnormen sowie eine Verkörperung im Sinne Bachtins karnevalesker Lachkultur und eines allegorischen Befreiungsgestus hervor, nämlich der kritischen Hinterfragung der bestehenden Ordnung, der herrschenden Mächte und Ideologien (Vgl. Dembiski 2000: 419).
Tyll ist zudem ein Narr, der am Hof eine konstitutive Rolle spielt sowie einen „festen“ Platz zu haben scheint ; „Deshalb hatte man Narren und selbst wenn man keinen Narren wollte, musste man einen zulassen, denn ohne Hofnarr war ein Hof kein Hof.“ (Tyll, S. 206). Zudem bringt Tyll durch sein spielerisches Benehmen gegenüber den Stadtbewohnern alles durcheinander und sorgt dazu für Unruhe, wobei er in folgender Szene als ein Gaukler, der sich über den Schaden anderer amüsiert, fungiert:
„‚Oder seid ihr zu blöd ? Könnt sie euch nicht mehr holen, schafft es nicht, seid zu dumm in den Schädeln ?‘ Er lachte meckernd. Der Spatz flog auf, erhob sich über die Dächer, war dahin. Wir blickten einander an. Was er gesagt hatte, war gemein ; aber es war so gemein auch wieder nicht, dass es nicht immer noch ein Scherz sein konnte [...]“ (Ebd.: 20)
Tyll ist daher in der Lage, die Bewohner zum Lachen ebenso wie zum Weinen zu bringen, weil er mit einem spielerischen Trick sie ironisch auffordert, sich ihr Schuhwerk nachzusuchen, nachdem sie es geworfen haben. Das veranschaulicht die Fähigkeit Tylls zur Umkehrung der Situation sowie sein Machtspiel. Hiermit entpuppt er sich als tragikomische Figur. Er steht in Verbindungmit dem Karneval bzw. im Sinne Bachtins zum volkstümlichen Karnevalslachen, da nach ihm das „närrische mundus inversus der karnevalesken Manifestationen anarchische Grenzen auf zwischen Oben und Unten, Kunst und Leben, Ernst und Spaß, Lachendem und Verlachtem löst.“ (Bachtin, in: Nünning 2013: 365). Jene Ulenspiegel-Sequenzen als Netz von Anspielungen zeigen, dass Tyll eine ambivalente Figur ist, die Lachen und Ernst in sich zugleich verkörpert. Dieses Lachen bzw. jene Ironie, die als Befreiung von der Angst (Vgl. Dembiski: 418) fungiert, tritt in Verbindung mit grotesken Elementen im Erzählgewebe bezüglich der Macht- und Gewaltverhältnisse des Kriegs.
Es stellt sich heraus, dass Kehlmann eine fesselnde Erzählung mit historischen Fakten eines vergangenen Zeitalters schafft, die das Tragische und Komische der Kriegserfahrung der Protagonisten vermengt. Historische Fakten und Figuren werden auf diese Weise durch ironische Anspielungen sowie karnevalistische Motive dargestellt, um historische Persönlichkeiten oder Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu repräsentieren.
Fazit
Von den vorigen Annahmen ausgehend lässt sich schlussfolgern, dass bei Kehlmanns Kulturpoetik bzw. Rekonstruktion vergangener Geschehnisse kulturpoetische Grenzen zwischen Historizität und Literarität bzw. zwischen Faktizität und Fiktionalität aufgelöst werden, wobei das Historische neuperspektiviert wird. In diesem Zusammenhang erfolgt Kehlmanns Geschichtsrekonstruktion im Tyll-Text mittels anachronistischer als auch heterochronischer Momente, sodass historische Ereignisse in verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Perspektiven geschildert werden. Kehlmann stützt sich auf die Wechselbeziehung von Geschichte und Fiktion sowie auf ein „Ineinander und Nebeneinander von Textualität und Geschichte“ im Sinne des New Historicism, wobei die im Text kontextualisierten Ereignisse europäischer Geschichte bzw. des Dreißigjährigen Krieges rekonstruiert und vergegenwärtigt werden. Dabei weist die mythische Figur Tyll einen unverkennbaren komisch-karnevalesken Status auf. Tyll wird als Vermittlungsinstanz zwischen Regierenden und Regierten bzw. als „populäre“ Leitfigur dargestellt, die sich einerseits in eine tragische Figur verwandelt. Andererseits fungiert sie als komische Narrfigur sowie historiografischer „Entertainer“, der sich auf schelmenartige Abenteuer begibt. Hierfür wird eine komplexe narrative Struktur geschaffen, die auf eine ästhetisch-poetische Verschmelzung von Fiktionalität und Faktum zurückgreift. In diesem Wechselspiel überlagert sich das Verstehen des gegenwärtigen Leserhorizontes mit dem historischen Horizont des Textes. Das heißt, der Leser wird zum Akteur, der seine Rolle im Text spielt, indem sein Erwartungshorizont als historischer Leser mit den Leerstellen des Textes sowie mit seiner historischen Verständnisbereitschaft verflochten ist.