Die Blendung ist ein Puppenspiel, und zwar eines, bei dem selbst aufmerksame Erwachsene in helle Aufregung geraten und derart ‚mitgehen‘, dass sie „höheres Menschliches, echte Kommunikation, Liebe im tieferen Sinne und Seele“ entsetzt als Abwehrfetisch schwenken und darüber vergessen, dass alles nur ein Spiel war (Goebel, in: Roth, 2020: 649).
Einleitung
Die oben auf Goebel Eckart zurückgehenden Worte deuten an, dass die Spielthematik und -problematik in Elias Canettis Die Blendung (1935) einen besonderen poetischen Stellenwert in der Poetik des Autors haben. Die Annahme, dass der Roman sich als Puppenspiel verstehen lässt, impliziert an sich nicht nur eine Dialektik von Spieldiskursen und Diskursspielen, sondern das Puppenspiel kann hiermit auch als eine den ganzen Roman prägende Spielallegorie angesehen werden. Verbunden werden kann die Spielproblematik des Romans mit den Raumdarstellungen, die eben auf Diskurse des Spiels angewiesen sind. Der Zusammenhang zwischen Raum und Spiel in einem Roman kann unter Bezugnahme auf ein dialektisches Prinzip des „Spielraums“ und „Raumspiels“ erfasst werden. In ihrer Auseinandersetzung mit den Begriffen „Raumspiel“ und „Spielraum“ kommen die Literaturwissenschaftlerinnen Julia Dettke und Elisabeth Heyne zum folgenden Ergebnis : Während der »Spielraum« für den Raum steht, auf den jedes Spiel grundlegend angewiesen ist, bezeichnet die ergänzende Wortschöpfung »Raumspiel« ein Spiel, das den Raum in besonderer Weise einbezieht. Die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen ist heuristischer Natur : In ihrer Ergänzung liefern beide ein Instrumentarium, das die räumlich-materielle Dimension und die prozessuale Offenheit im Zuge der Rezeption, insbesondere experimenteller Literatur, betont und beschreibbar macht (vgl. Dettke, Heyne, (ed.),2016 :35).
Der Zusammenhang zwischen Raum und Spiel erklärt sich zudem dadurch, dass das Spiel eine Räumlichkeit impliziert, und der Raum sich wiederum im Spiel einschließen lässt. (Vgl. Ibidem :11). Konkretisiert werden kann die hier entworfene These durch die Raumkonfigurationen und -repräsentationen, die in Canettis Die Blendung sowohl auf makrostruktureller als auch auf mikrostruktureller Ebene Eingang finden. Bereits bieten die Kapitelaufteilungen ‘Welt im Kopf‚Kopflose Welt, und ‚Kopf ohne Welt‘ wichtigen Anlass für die Untersuchung jener Raumordnungen, die sich im Roman durch die Kapitelaufteilungen und ihre Juxtaposition spielerisch schematisieren lassen. Auf mikrostruktureller Sphäre treten die im Text dargestellten Mikrowelten auf, in denen die Romanfiguren sich dynamisch bewegen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle Peter Kiens eigene Wohnung, in der er mit seiner Frau Therese Krumbholz ein konflikthaftes und bis ins Groteske zugespitztes Leben führt. Demnach kann die Wohnung hierbei als Spielraum betrachtet werden. Daher liegt das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Aufsatzes darin, die Wechselbeziehung „Raumspiel“ und „Spielraum“ in Canettis Roman kultursemiotisch zu reflektieren, und sie einer literarischen Raumanalyse zu unterziehen. Nicht zuletzt wird der Versuch unternommen, Formen und Funktionen des Spiels topografisch im Text zu situieren.
1. Kapitelaufteilungen als Spiel mit Paratexten
Bemerkenswert in Canettis Die Blendung ist die Kapitelaufteilungen (Welt im Kopf, kopflose Welt, Kopf ohne Welt), deren Formulierungen nicht nur als ein Wortspiel betrachtet werden sollen, sondern auch ein von dem Autor für die Räumlichkeit konzipiertes poetisches Programm aufweisen. Auf einer dynamischen Inklusion und Inversion beruhend‚ d.h. ‚Welt ohne und im Kopf‘ und vice versa (Vgl. Aberkane, 2018 : 207), können diese Kapitelaufteilungen demgemäß unter dem Gesichtspunkt eines Raumspiels gedeutet werden. Sie fungieren dabei als Spiel mit den Raumkonfigurationen und dienen dem Leser als Einführung in die Rekonstruktion der im Roman dargestellten Räume, die ‒ im Bezug auf deren Vielschichtigkeit und Andersheit ‒ einem spielerischen Spannungsverhältnis unterliegen. Analog zu Vortexten fungieren die Kapitelaufteilungen auf Grund ihrer parataktischen Ordnung als materielle Grundlage, auf die die Literatur in Form eines metatextuellen Spiels hindeutet. (Vgl. Dettke, Heyne,(ed.), 2016 : 31). An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass das Kosmos-Papier der Kapitelaufteilungen mit anderen Spielmaterialien wie dem Schachbrett1 verglichen werden kann ; es kann dadurch, aus rezeptionsästhetischer Hinsicht, ebenso als ein dialogischer Spielort zwischen Autor und Leser verstanden werden. Diese Annahme lässt sich bereits im ersten Teil des Romans „Kopf ohne Welt“ – Unterteil : „der Spaziergang“2 manifestieren : „der Spaziergang“ gilt hiermit als Anspielung, sowohl auf den ganzen Roman prägenden Lebensweg als auch auf den ersten Begegnungsort zwischen Autor und Leser.
2. Die Wohnung als Handlungsspielraum
Charakteristisch für die Räumlichkeit in Canettis Die Blendung sind die Andersheit und die Vielfalt der Räume, die sich in den Handlungen als Raumketten erweisen. Diese lassen sich schon im ersten Teil „Kopf ohne Welt“ – Unterteil feststellen: „der Spaziergang“‒ in den Raumbeschreibungen der Wohnung und deren Möbelteile mit der Rekurrenz der Pluralform „Räume“, die im Text in einer Form literarischer Obsession auftreten (Vgl. Die Blendung : 74) und einer Ästhetik des Widerholens unterweorfen sind. Gaston Bachelards Raumansatz3 zufolge kann die Wohnung hierbei als Kosmos des Hauptprotagonisten Peter Kien angesehen werden. Die Wohnung als Kosmos beinhaltet ebenfalls Mikrowelten, in denen die Hauptfiguren, nämlich Peter Kien und seine Frau Therese, sich von „Raum zu Raum“, wie es der Erzähler betont, (Vgl. Ibidem : 74) in einem dynamischen Hin-und-Her (Vgl. Dettke, Heyne, (ed.), 2016 : 31) bewegen. Hervorzuheben ist an dieser Stelle das spielerisch geprägte Verhältnis zwischen den beiden Romanfiguren, das den ganzen Roman größtenteils prägt. Dabei stellt sich heraus, dass das Leben des Ehepaars einem täglich wiederholten Spiel gleicht. (Vgl. Die Blendung : 255). Im Laufe des Romans lässt sich feststellen, die Wohnung fungiert als Schauplatz für den Konflikt beider Ehepartner, der bis ins Grotesk-Absurde, sogar Komische kulminiert. Aufgrund dieser Annahme ‒ gemeint wird hier der Konflikt-Schauplatz-Zusammenhang ‒ kann behauptet werden, dass die Wohnung sowohl als Spielraum (im Bezug auf den Schauplatz) als auch Raumspiel (im Hinblick auf den Konflikt) bezeichnet werden kann. Diese Idee kann anhand verschiedener Textpassagen im Roman veranschaulicht werden. In diesem Zusammenhang kann die folgende Szene wiederum im Zeichen eines wechselseitigen Verhältnisses zwischen Spiel als Raum und Raum als Spiel charakterisiert werden :
Sie war längst fertig, als Kien um sechs erwachte. Sie verhielt sich ganz still und horchte auf seine Bewegungen beim Anziehen, beim Waschen, beim Abklopfen der Bücher. Die Abgeschiedenheit ihres Lebens und sein lautloser Gang hatten die Empfindungen ihres Ohrs für bestimmte Geräusche auf eine hohe Stufe gebracht. Sie erkannte genau, in welcher Richtung er sich bewegte, trotz dem weichen Teppich und seinem geringen Gewicht. Er unternahm alle möglichen nutzlosen Wege, nur für den Schreibtisch hatte er nichts übrig (Ibidem : 210).
Diese Textpassage macht deutlich, dass die Wohnung, im Hinblick auf Peter Kiens Entfremdung und Perspektivlosigkeit eigentlich als labyrinthischer Raum fungiert. Kennzeichnend dafür sind auch hier die Kleidungs- und Büchermotive, wodurch sich die Diskurse des Spiels im Wohnungsspielraum mit artikulieren lassen. Vorgeführt werden die in den oben zitierten Textpassagen Spielszenen ‒ unter Bezugnahme auf Anziehen, Waschen und Abklopfen der Bücher ‒, vom Protagonisten Peter Kien, der hierbei als komische Spielfigur auftritt. Auf Thereses Körpersprache und -bewegungen beziehend lässt sich die Einsicht vertreten, dass sie implizit ein sogenanntes „Versteckspiel“ aufführt, in dem sie Peter Kiens Gewohnheiten von weitem im Auge hält. Sie verkörpert darüber hinaus einen Als-Ob-Status (Vgl. Dettke, Heyne, (ed.), 2016 : 11) des Spiels im Raum im Bezug auf diesesas Versteckspiel, und des Raums im Spiel im Hinblick auf eigenen Körperraum und -bewegung. Eine andere Szene, wo das Versteckspiel bzw. Kampfspiel explizit dargestellt wird, ist Peter Kiens Suche nach dem vermeintlich verlorenen Schlüssel, den Therese in ihrem Rock von Anfang an versteckt. Peter Kien versucht also vergeblich, diesen zu finden, was ihn am Ende ‒ wie der Erzähler es zum Ausdruck bringt ‒ zu einer Irrenanstalt führt. (Vgl. Die Blendung : 236). Davon ausgehend kann behauptet werden, dass der Autor mittels der Wohnungsdarstellung im Roman eine Ästhetik des Versteckens (Vgl. Bachelard, in : Dettke, Heyne, (ed.), 2016 : 19) darzustellen versucht. Ein zentrales Motiv dafür ist Peter Kiens Krankheit, die im Roman den Effekt eines makabren und zugleich komisch-karnevalesken Versteck- und „Körperspiels“ hervorruft. Im Text heißt es :
Durch kluges Ausweichen nach der jeweils entgegengesetzten Seite gelang es einen Fall zu verhüten. Nach und nach jonglierte er sich in seine Kleider hinein, die er unter seinem Bett hervorholte. Jede Hülle wurde mit Frohlocken begrüßt, ein Zuwachs seines Panzers, ein wichtiger Schutz. Die Bewegungen zur Erhaltung des Gleichgewichts glichen einem tiefsinnigen Tanz. Von Schmerzen, kleinen Teufeln, gezwickt, doch dem Großen, dem Tode entronnen, er tanzte sich Kien seinen Weg zum Schreibtisch. Dort nahm er, vor Aufregung leichtbetäubt, Platz und schlenkerte noch ein wenig mit Armen und Beinen, bis sie sich beruhigt hatten und in ihre alte Unterwürfigkeit zurückgekehrt waren (Die Blendung : 294).
Auffallend ist in diesem Textauszug vor allem das Jonglieren mit den Kleidern, das hier ein explizites Kleidungsspiel und eine Ästhetik der Verkleidung evoziert, die in Die Blendung in verschiedenen Textstellen häufig vorkommt. Weiterhin weist die hier als Tanz beschriebene Handlung des Hauptprotagonisten auf das Komische wieder hin. In Zusammenhang mit dem Tanzen wird Krankheit in der oben zitierten Textpassage mit dämonisch-grotesken Effekten dargestellt. Dieses inszenierte Verkleidungspiel ereignet sich in Peter Kiens Schreibzimmer, das somit als imaginärer, surrealistischer Schauplatz bzw. Spielraum fungiert ; das Schreibzimmer als Mikrowelt erweist sich dadurch als Handlungsspielraum (Vgl. Neuman, in : Düne, Mahler, (ed.), 2015 : 100), in dem sich die Hauptfigur befindet. Außerdem zeichnet sich diese Szene dadurch aus, dass der Autor in seinem Text aus dem Blickwinkel von Peter Kiens Raumbewegungen (vom Diwan zum Schreibtisch) ein enunziatives Raumspiel ästhetisiert. Der Schreibtisch kann, anders gesagt, als Enonciationsmoment gedeutet werden.
3. Heterotopien als Spielräume
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, finden sich in Elias Canettis Die Blendung heterotopische Räume, die dazu verleitet, jene Räumlichkeit des Romans aus spielerischen Gesichtspunkten her zu betrachten. Dies entspricht der Annahme, dass Heterotopien im Sinne von Michel Foucault nicht nur als Zwischen- oder Gegenräume fungierende Orte (Vgl. Foucault, 2017 : 10), sondern ebenso als Spielräume verstanden werden können. In diesem Sinne vertreten Elisabeth Heyne und Julia Dettke folgende These :
Die Heterotopie ist dem Spielraum in Form und Funktion verwandt, ohne dass der Begriff des Spiels zu ihrer Beschreibung verwendet würde. (Dettke, Heyne, (ed.), 2016 : 19).
Als dominanter heterotopischer Spielraum fungiert hierbei die Bibliothek, die zunächst als „Zufluchtsort“4 des Hauptprotagonisten Peter Kien interpretiert werden kann. In der Bibliothek, die ebenfalls im Roman die Form eines labyrinthischen Raums annimmt wird, kreuzen sich Spieldiskurse, die sich auf thematischer Ebene durch die Darstellung der Kindheitsthematik situieren lassen. Schon im ersten Teil des Romans macht der Hauptprotagonist Bekanntschaft mit einem Kind namens Franz Metzger, das eifriges Interesse an Büchern zeigt. Die beiden Romanfiguren befinden sich bereits in ihrer ersten Begegnung in einem sogenannten Frage-Antwort-Spiel. (Vgl. Die Blendung : 56-57). Schon in der Bibliothek verhält sich das Kind spielerisch mit den Büchern des Sinologen, was seine Lesetätigkeit sowie einen transkukturellen Rezeptionsraum eröffnet. Aus der Perspektive des Kindes her gleichen die Bücher Spielzeugen. Dieser intertextuell-spielerische Umgang mit Büchern seitens des Kindes wird in Die Blendung wie folgt dargestellt :
Der Junge starrte die Titel der Bücher an und bewegte langsam und leise die Lippen. Ausdauernd glitt er von Band zu Band. Alle paar Minuten warf er den Kopf herum (Ibidem :59).
Im Vergleich damit, zeichnet sich Peter Kiens Spiel im Lesen hingegen durch seine intellektuelle Zurückgezogenheit und Obsession. Dies lässt sich einerseits mit den von ihm täglich in der Bibliothek gelesenen Büchern, andererseits mit seiner Faszination als Sinologe für die asiatischen Kulturen und Literaturen erklären. Diese Annahme hat weiterhin ihren Raum in der Intertextualität des Romans, die im Zusammenhang mit der Problematik des vorliegenden Aufsatzes als intertextuelles Verweisspiel untersucht wird. Charakteristisch für Kiens Bibliothek ist eben die Rekurrenz des Blindheitsmotivs, das ebenfalls mit der Problematik des Spiels in Verbindung gesetzt werden kann : das im Roman als intertextuelle Anspielung auf den Blinden in „Die Stimmen von Marrakesch“ dargestellte Blindheitsmotiv impliziert einen Theatralitätdiskurs, der ebenfalls als Spiel im Raum betrachtet werden kann. Diese Auffassung kann mit Peter Kiens Versuch, die Rolle des Blinden im Schreibtisch lustig zu übernehmen, assoziiert werden. Dementsprechend kann in diesem Kontext vermutet werden, dass Peter Kien im Roman als Erinnerungsfigur auftritt ; er erinnert demgemäß an die in „Die Stimmen von Marrakesch“ dargestellten blindenden Bettler, ins Besondere an den sogenannten „Marabu.“5 In Die Blendung heißt es :
Die Übung im Blindgehen machte aus ihm einen Meister. Drei, vier Wochen verstrichen, und er fand in kürzester Zeit, was er wollte, ohne Betrug und Hinterlist, mit wirklich versperrten Augen, eine Binde hätte ihn nicht mehr geblendet. Seinen Instinkt behielt er selbst auf der Leiter. Präzis, wo er sie haben mußte, legte er sie an. Mit langen, heftigen Fingern faßte er sie zu beiden Seiten und kletterte blind die Sprossen hinauf. Auch oben und beim Hinuntersteigen bewahrte er spielend sein Gleichgewicht (Die Blendung : 133).
Am Schreibtisch verhält sich der Hauptprotagonist des Romans komisch, indem er Bücher mit geschlossenen Augen holt und sie zurücklegt, was ihm Phantasiemomente und Lust verschafft. (Vgl. Ibidem : 131-132).
Bemerkenswert ist in Die Blendung die Thematik der Verwandlung, die sich durch Peter Kiens Steinverwandlungen anschauen lässt. Jene „Versteinerung“ kann zunächst als imaginärer Verstecks- und Schutzort bzw. eine Art „Panzer“ des Hauptprotagonisten interpretiert werden ; es ist ein imaginärer Raum, wo sich Peter Kien vor Thereses „teuflischer“ Verhaltensweise und deren Geldgier momentan zu schützen sucht. Die Steinverwandlung sieht Therese als Verwirrung und zugleich als spielerischen Trick, wie es der Erzähler beschreibt :
Sie fürchtete sich vor dem Stein und machte einen Bogen darum. Die Kunst, mit der er wochenlang steif auf dem Stuhle saß, verwirrte sie. Sie war ohnehin schon verwirrt. Aber nach diesem scharfsinnigen Trick wußte sie überhaupt nicht mehr, wer er war (Vgl. Ibidem : 270).
Außerdem suggeriert diese Steinverwandlungsmetapher einerseits ein Entfremdungsspiel im Raum im Bezug auf Peter Kiens Verwandeln, was ihm Phantasiemomente und Imaginationsräume ermöglicht, andererseits suggeriert sie einen Raum im Spiel hinsichtlich des Verwandlungsprozesses selbst ; gemeint ist hier die Diskrepanz bzw. die spielerische Versetzung von der Außen- in die Innenwelt.
Neben der Bibliothek taucht die Irrenanstalt als heterotopischer Raum, deren Räumlichkeit ein Spiel mit dem Wahnsinn suggeriert, auf. Dieser heterotopische Spielraum kann grundsätzlich durch Georg Kiens (Peter Kiens Bruder) lustiges Benehmen und spielerischen Umgang mit seinen Patienten thematisch verbunden werden. Im Roman heißt es :
Gebärdete sich zum Beispiel ein Kranker als zwei Menschen, die nichts miteinander gemein hatten oder sich bekämpften, so wandte Georges Kien eine Methode an, die ihm anfangs selbstgefährlich erschien : er befreundete sich mit beiden Parteien. Fanatische Zähigkeit war die Voraussetzung zu diesem Spiel …Dann ging er an die Heilung heran. In seinem eigenen Bewußtsein näherte er die getrennten Teile des Kranken, wie er sie verkörperte, und fügte sie langsam aneinander. Er fühlte, an welchen Punkten sie sich vertrügen, und lenkte die Aufmerksamkeit beider Teile durch starke, eindringliche Bilder immer wieder auf diese Punkte, bis sie hier haften blieb und selbsttätig weiterkittete (Ibidem : 563).
Bemerkeswert in Georg Kiens spielerischem Benehmen gegenüber seinen Patienten ist seine Heil- und Kommunikationsmethoden, die einen spielerischen Charakter implizieren. Signifikant in dieser Textpassage ist also Georg Kiens Heilmethode, die sich als Anspielung auf die Unzulänglichkeiten der zur Zeit zum Fach avancierenden Psychoanalyse erweist. Diese Heilmethode evoziert sowohl eine ironische Anspielung auf ihren Diskurs als auch eine Fragmentierung des Ichs, das hier "wiederhergestellt" werden soll. Außerdem erinnert der in der Textpassage hervorgehobene Patienten-Kampf an den inneren Kampf des Ichs bzw. an die Krise des Ichs in der Moderne. Daher lässt sich feststellen, dass die Anstalt als Illusionsraum gegenüber den eignen Desillusionen angesehen werden kann. Dementsprechend suggeriert die Anstalt ein dialektisches Spiel von Illusion und Desillusion : Georg Kien als entfremdeter Intellektueller gegenüber der Enthumanisierung der Einzelnen in der Modere sieht jene klinische Institution als Zufluchtsort bzw. als utopischen Ort (der eigenen Introspektion). Von den eigenen Patienten aus entwirf Georg Kien sozusagen das symbolische Bild eines Schauspielers, der in der Anstalt „komische“ Lustmomente schafft und Spielszenen vorführt :
Mit der Zeit entwickelte er sich zu einem großen Schauspieler. Seine Gesichtsmuskeln, von seltener Beweglichkeit, paßten sich im Laufe eines Tages den verschiedensten Situationen an. Da er täglich mindestens drei, trotz seiner Gründlichkeit meistmehr Patienten zu sich lud, hatte er ebenso viele Rollen zu erschöpfen (Vgl. Ibidem : 563).
Zu den heterotopischen Spielräumen gehört nicht zuletzt die im Roman polyphon dargestellte Bar „Zum idealen Himmel“ (Ibidem : 263), die zudem als intermedialer Ort fungiert. Die ‘Bar zu idealem Himmel‘ als solche strahlt eine gemütliche Atmosphäre aus und indiziert eine Spielvielfältigkeit (Musik und Schachspiel), was der Erzählung einen szenischen und heterogenen Charakter zuweist. Hiermit ist zu betonen, dass die Bar die Idee einer spielerischen Utopie bzw. Phantasie-Welt im Hinblick auf den Untertitel „Zum idealen Himmel“ hervorruft. In der Bar macht Peter Kien Bekanntschaft mit einem schachspielenden „Zwerg“ namens Fischerle, der davon träumt, Schachweltmeister zu werden und nach Amerika zu reisen. Diese Romanfigur erinnert nicht nur an den weltbekannten Schachweltmeister Bobby Fischer (Vgl. Aberkane 2018 : 208), sondern sie bezieht sich zudem auf Canettis autobiografischen Band Das Augenspiel, dessen Kapitelaufteilung ja folgendermaßen lautet: „Geburt eines Zwerges.“6 Während der Lektüre lässt sich erahnen, dass zwischen Fischerle und dem Hauptprotagonisten ein auf Interesse beruhendes Beziehungsverhältnis besteht : Fischerle will sich auf der einen Seite Peter Kiens Geldes bemächtigen, um nach Amerika reisen zu können ; auf der anderen Seite erwartet Peter Kien von dem schachspielenden Zwerg Unterstützung bei der Rettung und das Zurückholen seiner Bücher. Die beiden Romanfiguren führen spielerische Szenen und komische Gespräche, die sich durch Wortspiele auszeichnen :
Fischerle stellte sich auf einen Stuhl – er war jetzt gerade so groß wie der sitzende Kien – und sang mit brechender Stimme : »I bin a Fischer – er is a Fisch ! « Bei »i« klatschte er sich mit dem Papier auf den eigenen Buckel, bei »er« schlug er es Kien um die Ohren (Die Blendung : 274).
Wichtig ist in dieser Textpassage ist zudem der Gebrauch einglischer Wörter. Dies ist zunächst mit Canettis Mehrsprachigkeit zu verbinden, die hierbei der kosmopolitischen Autoridentität und dessen poetischem Diskurs zuzuordnen ist. Mit dem Verweis auf die sprachliche Anspielung „i bin a Fischer – er is a „Fisch“ wird nicht nur eine Dialektik des Spiels zwischen Fischerle als Fischer bzw. Jäger und Peter Kien als Fisch bzw. Gejagten inszeniert, sondern es ist eben ein intertextuelles Verweisspiel und ein ästhetisches Spielprogramm zu begreifen ; der Name Peter erinnert ‒ aus biblischer Sicht ‒ an Petrus, der in der Bibel auch als bekannter Fischer gilt. (Vgl. Roth, 2020 : 649). Weiterhin kann festgestellt werden, dass die Rekurrenz des Wortspiels und die intertextuellen Bezüge in Die Blendung als Komponenten eines poetischen Spielraums begriffen werden können ; während das Wortspiel sich in der Sprache verortet und ihr Materialität verleiht, fungiert das intertextuelle Gewebe des Romans als Kompendium auf nicht nur andere Texte (Vgl. Wellnitz, (ed.), 2013 : 07), sondern es kann auch als multireferenzielles und anachronistisches Spiel mit verschiedenen Epochen und Kulturen verstanden werden. Hervorzuheben in dieser Hinsicht ist eben das Schachspiel, wodurch sich intertextuelle Diskurse übertragen lassen : Autoren wie Franz Kafka, Karl Kraus und Hermann Broch, die Canetti inspirierten, waren nicht nur Schachspieler und -kenner, sondern thematisierten deren Werke ebenso das Schachspiel. (Vgl. Ehn, in Roth : 2020 : 660). Das aus dem Blickwinkel von Fischerle dargestellte Schachspiel erfüllt in Die Blendung sowohl kultur-, zivilisations- bzw. gesellschaftskritische als auch poetische Funktionen. Das Schachspiel bezieht sich in erster Linie auf die jüdische Schachspielkultur ; die Romanfigur Fischerle evoziert weltbekannte Schachspieler jüdischer Abstammung wie Wilhelm Steinitz, der, wie Fischerle, eine körperliche Behinderung hatte.7 Zudem reflektiert das Schachspiel im Roman ein klischeehaftes Judenbild durch ein von Fischerle verkörpertes merkantiles „Kalkül“ , das ein sogenanntes „jüdisches Kapital“ versinnbildliche. (Vgl. Die Blendung : 285). Darüber hinaus verleiht es der dargestellten Welt, allegorisch wie symbolisch ‒ im Sinne von Peter Wapnewski ‒ einen Ordnungs- und Machtanspruch. (Vgl. Wapnewski, in : Kratsioras, (ed.), 2011 : 21). In Die Blendung kann das Schachbrett, aufgrund dessen die jüdische Lebenskultur allegorisch repräsentiert wird, als eine Art von „Weltmetapher“ interpretiert werden. Da die Struktur des Schachspiels ‒ gemeint sind hiermit die Spielfiguren und -regeln ‒ in literarische Textstrukturen übertragbar ist, (Vgl. Linder, 2011 : 20), kann in Die Blendung somit von einer Parallelisierung bzw. spielerischen Verquickung von Literatur und Schach die Rede sein. Die Idee, dass Schachspiel vom Spieler nicht nur Kalkül, sondern vor allem Kreativität und Phantasie (Vgl. Kratsioras, (ed.), 2011 : 17) erfordert, lässt sich eben bei Fischerle bemerken : im Schachspiel schafft sich der schachspielelende Zwerg eigene Phantasiewelt und Imaginationsraum. Dabei lässt sich schlussfolgern, dass das Schachspiel im Roman nicht nur einen Kosmopolitismus versinnbildlicht, sondern es suggeriert mittels Fischerles Sehnsucht nach einer traumhaften bzw. idealen Schachwelt, ebenso eine spielerische Dualität zwischen Imagination und Wirklichkeit.
Schlussbemerkungen und Ausblick
Ziel der vorliegenden Untersuchung war, die bestehenden Wechselbeziehungen zwischen Spiel und Raum in Elias Canettis Roman Die Blendung ans Licht zu bringen. Ausgehend von den schon dargelegten Erläuterungen kann zusammenfassend festgestellt werden, dass die wechselseitigen Paradigmen Raumspiel und Spielraum sich im selben Roman als zwei wichtige poetische Prinzipien in Canettis Roman erweisen. Sie fungieren dabei als sinnkonstitutive Entitäten seiner Raumpoetik. Nach der Analyse der beiden Aspekte stellt sich heraus, dass Canettis Roman sich als ein komplexes Raumgeflecht versteht, in dem sich Diskurse des Spiels überschneiden. Diese lassen sich sowohl auf sprachlich-textueller als auch topografischer Ebene situieren. Als Ort der Selbstreflexivität fungieren eben die Kapitelaufteilungen, die an sich als poetische Spielräume des Autors interpretiert werden können. Zu diesen Spielräumen gehören, neben der Mikrowelten beinhaltenden Wohnung, die heterotopischen Räume, besonders die Bibliothek, die Bar und die Irrenanstalt. In diesen heterotopischen Räumen verschmelzen sich Raumspiel und Spielraum, die einem Interdependenzverhältnis ausgesetzt sind. Trotzdem sollen die beiden Konzepte ‒ ausgehend von der Analyse der Wohnung und der schon erwähnten Heterotopien ‒ voneinander noch nuanciert werden : während Spielraum als Ort des Spiels in einem literarischen Text verstanden werden kann, tendiert Raumspiel eher zur Autorpoetik und -funktion und hebt den szenisch-theatralischen Charakter von Canettis Roman hervor. Daraus lässt sich ergeben, dass Canettis Poetik auf eine Dialektik beider Aspekte angewiesen ist. Kennzeichnend ist eine räumlich geprägte Intertextualität, die ein Spiel mit textuellen Verweisen aufzeigt und ein textuelles, heterogenes Mosaikspiel im Text erscheinen lässt. Sie fungiert zugleich als textuelles, allegorisches Raumspiel, in dem der Autor die Konturen seines eignen Textraums überschreitet, um seine Texträume bzw. Kultur- und Zeiträume in andere zu versetzen.