Einleitung
In ihrem 19631 veröffentlichten Roman Die Wand stellt Marlen Haushofer verschiedene Ereignisse ihrer Zeit dar, indem sie den Materialismus der Zivilisation und Kultur und dessen negative Auswirkungen kritisch hinterfragt. Der Fokus der Handlung liegt auf einer namenlosen Frau, die mit ihrer Kusine und deren Mann Hugo ein Wochenende in deren Jagdhütte verbringen möchte. Nach ihrer Ankunft unternimmt das Paar noch einen Ausflug in das nächste Dorf und kehrt jedoch nicht mehr zurück. Am nächsten Morgen stößt die Frau auf eine unüberwindbare Wand, hinter der Totenstarre herrscht. Abgeschlossen von der übrigen Welt, richtet sie sich inmitten ihres engumgrenzten Naturraums und umgeben von einigen zugelaufenen Tieren aufs Überleben ein. Der Roman befasst sich daher grundlegend mit der Dekonstruktion verschiedener symbolischer Grenzen und Verdrängungsmechanismen in einer von destruktiven Wissenschaften und dem Patriarchat dominierten Gesellschaftsordnung. Haushofer erzielt dies durch den Einsatz von Natur- und Tiermetaphorik der feministisch-rehabilitierten österreichischen Romantik (vgl. Palmer, 1993: 16), die als frühpostmoderne Kritik angesehen wird. Ihre Wahl verdeutlicht, dass die Symbolik einer Naturbeschreibung auch als Verschiebung eines Innen- Außenverhältnisses fungiert. Aus psychoanalytischer Sicht kann man es als Projektion der inneren Isolation der Protagonistin nach außen betrachten (vgl. ebd., 17). Dieses Unbewusste wird vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit Themen wie Körperarbeit und Leben mit Tieren verwoben und als obsessives Netzwerk dominiert. Die im Roman vertretenen natur- und tierethischen Positionen sind Teil philosophischer und kulturkritischer Reflexionen und bieten eine Reihe kritischer Überlegungen zur anthropologischen Differenz.
Darauf aufbauend lässt sich nach der zivilisations- und kulturkritischen Dimension angesichts des Tier und- Naturdiskurses fragen. Hierbei sollte auch die Rolle des Körpers, des kulturellen Gedächtnisses und der Sinne betont werden. Fragen zur Thematisierung des destruktiven Charakters des Anthropozäns2 und wie der Text durch seine poetischen Verfahren selbstkritisch und warnend reagiert, sind ebenso dieser Untersuchung zu verdanken.
1. Die Wand. Eine Überschreitung und historische Wende
„Verdutzt strecke ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles: an der doch gar nichts sein konnte als Luft“ […] (DW. 15)
Haushofers Diskurs bezieht sich auf Orte und Topographien, die einen signifikanten Grenzüberschreitungsgestus aufweisen. Die obige Schlüsselpassage veranschaulicht die erste Begegnung der Ich-Erzählerin mit einer entstehenden unsichtbaren ‚Grenze‘,3 die sie von der Zivilisationswelt isoliert und sie gewissermaßen in einem Naturrandbezirk einschließt. Das Auftauchen der Wand schafft ein schwer zu umreißendes Territorium, das mit einem Schwellenraum überschnitten werden muss. Der Lebensraum der Protagonistin wird in eine reale und inchoativ- onirische und utopische Welt, in ein Innen- Außen, ein Hier und dort gespalten. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein geographisches und räumliches Phänomen, sondern es stellt ebenso einen zeitlichen Moment für sie dar.
Die Wand kann daher als ‚Achronie‘4 betrachtet werden, wobei sie das Leben der Protagonistin in eine kleine warme Insel des Jetzt, Hier und Damals umspült und somit eine Verbindung zwischen ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt (vgl. DW. 213). Dadurch ermöglicht sie die Rekonstruktion historischer Brüche, auf die dieser Verschiebungsprozess stößt.
Auffallend ist die doppelte Raumdarstellung, die auf anthitesche Merkmalen aufbaut. Die topografische Metapher des „Waldgefängnisses“ veranschaulicht beispielsweise die Angsterfahrung der Protagonistin und später auch ihren Frieden (vgl. DW. 22 u. 216). Diese Orte funktionieren entsprechend als periphere Orte bzw. als Heterotopien (Foucault, 2012a: 317); sie erzeugen ein utopisches und künstlerisches Klima, das sich auf die Realität der irreführenden Versprechungen und Täuschungen der modernen Zivilisation basiert und so in eine Kritik an dieser umfunktioniert wird. Das Leben der Protagonistin spielt sich hinter den Wänden einer fiktiven Wand ab, jenseits von Raum und Zeit. Dieser Grenzraum, in dem die Protagonistin eingesperrt ist, bietet ihr paradoxerweise sowohl Überlebensmöglichkeiten als auch Geborgenheit. Die Wand ist streng genommen kein konkreter Raum, übernimmt allerdings eine herausragende Funktion in Haushofers Raumkonstellation und Poetik, da sie deutlich die Grenze ‚- Schwelle5 zwischen Innen- und Außenraum im multiplen Sinn gestaltet.
Die Wand wird aufgrund ihrer Materialität und im Anschluss an Jan Assmann als eine
„architektonische Abgrenzung des Raums“ betrachtet, die mit politischer Ideologie und Herrschaftskontrolle verbunden ist und sich als Machtmechanismus zur Gewährleistung ihrer Dauerhaftigkeit erweist“ (vgl. Dreier / Euler, 2005: 22).
Besonders relevant ist dies im Hinblick auf das kollektive Gedächtnis Österreichs, das auf der Grundlage eines narrativen Erinnerungsakts und angesichts einer auf der Metaebene mnemotechnischen Strategie an eigenen Kindheitstraumata in Gang gesetzt wird.
Diese Reflexionsebene ist eng mit einer Ästhetik der „Plötzlichkeit“ und den damit verbundenen Empfindungen wie „Angst“ und „Schrecken“ assoziiert (Bohrer, 1983). Diese Zustände werden durch die neue Raum- und Zeiterfahrung und der damit eihergehenden Wahrnehmung6 eines „Sehens“, „Tastens“ und „Hörens“ des Subjekts bzw. der Protagonistin hervorgerufen. Somit werden diese Sinne als Medium der (Selbst-)Erkenntnis, als Vorgang von Zeit und Raum sowie als andere Existenzform der Protagonistin kodiert und zu einem literarischen Entwurf einer Ästhetik des Taktilen entwickelt (vgl. Brandstätter, 2013/2012: 1 u. 7).
Der Erinnerungsprozess der Ich-Erzählerin hängt weiterhin eng mit dem Gesetz des Körpers, eines Körperwissens zusammen. Nach Lamping fungiert der Körper als „Ort der Differenz und des Transits“ (Lamping, 2001: 12). Vom Körper zu sprechen heißt auch, im Sinne Foucaults, von Abweichungs- und utopischen Heterotopien zu sprechen; vom verdrängten und entfremdeten Anderen, vom Unsagbaren, das dem Schweigen und der Einsamkeit geweiht ist (vgl. Foucault, 2014b: 10-79). Auf dem Leib der Protagonistin finden sich Spuren vergangener Ereignisse, insbesondere aus Kriegszeiten und ihrer Vergangenheit als Frau und Stadtkind. Diese Stigmata sind mit den Motiven des Hungers und des Vorrats assoziiert (vgl. DW. 10-12-19-54-77). Die Wand stellt für sie daher eine Grenze und gleichsam ein körperhaftes Wesen dar, dessen Auftauchen von Anfang an mit dem Erlebnis von Schmerz und Verletzung verbunden ist.
Diese Genealogie des Leidens ist bereits in der Körpergeschichte vorprogrammiert (vgl. Foucault, 1993c: 174), und wird hier während des Schreibprozesses der Protagonistin auf der Metaebene in einen subversiven Code und Protestmoment umgekehrt.
Auf der Metaebene und in semiotischer Hinsicht oszillieren Grenzen weiterhin brüchig zwischen vermeintlichen Gegensätzen und theorisierenden Schlüsselorten wie heterogenen Zitatformeln und Kommentarstellen, sodass sich eine Ästhetik der Transgression gegen alle Autoritätsraster des Diskurses richtet (vgl. Bode, 2007: 854).
Außerdem fand ich in der Tischlade ein Paket schmutziger Tarockkarten. Ich kenne das Spiel nur vom Zuschauen, aber die Karten gefielen mir, und so nahm ich sie mit. Später erfand ich mit ihnen ein neues Spiel, ein Spiel für eine einsame Frau. Viele Abende habe ich damit verbracht, die alten Tarockkarten zu legen. Ihre Figuren waren mir so vertraut, als hätte ich sie schon ewig gekannt. Ich gab ihnen Namen, und einige mochte ich lieber als die andern […]“(DW. 63).
Das Motiv des Kartenspiels impliziert eine allegorische Reflexion über den Realitätsbegriff und Subjektstatus der Figuren. Diesem Kommentar liegen implizit sowohl mnemotechnische als auch geopolitische Überlegungen zugrunde, da die Autorin auf intermediale Weise versucht, die ungeschriebene Geschichte dieser Figuren bzw. der an den Rand platzierten Schwachen zu schreiben und zu erzählen, genauer gesagt die Geschichte der diversen Exklusionsprozesse. In Die Wand ist die mnemotechnische Geopoetik zugleich eine geopolitische, die sich mit den realen und irrealen Randzonen auseinandersetzt. Die Veränderungen, denen Menschen in Randgebieten ausgesetzt sind und die im Namen der Wissenschaft instrumentalisiert werden, scheinen uns unsere Vorstellungen und Bilder jenseits aller Grenzen näherzubringen. Darüber hinaus reflektiert sich die Fiktion an diesem intermedialen Ort selbst und hebt ihre Grenzen auf, verweist auf die vertikale Dimension und andere heterogene Topographie der Tiefe und führt zur Inszenierung eines intersubjektiven Stimmenspiels.7
2. Zur Mensch-Tier- Beziehung. Zwischen Abgrenzung und Gebundenheit
2.1. Anthropologische und zivilisationskritische Vorüberlegungen
Aufgrund ihrer Isolation von anderen Menschen legt die Protagonistin großen Wert auf den Kontakt mit Tieren. Zwischen ihnen ist jedoch von Anfang an eine konstruierte dialektische Beziehung verankert. Erwähnenswert sei, dass die geronnene Mensch-Tier- Dichotomie der westlich-hegemonialen Philosophie-, philosophischen Anthropologie-, Zivilisations- und Fortschrittsparadigmata gilt (vgl. Adorno/ Horkheimer, 1969: 262).
Jene Verschärfung der Abgrenzung zum Menschen wird daher durch die Unvernunft und Sprachlosigkeit der Tiere suggeriert (vgl. Steinbrecher, 2011: 192). Horkheimer/Adorno stehen selbst diesem Sachverhalt sehr kritisch gegenüber, betonen jedoch, dass in der westlichen Tradition sowohl Frauen als auch Tieren gleichermaßen der Subjektstatus abgesprochen wurde, wobei nur der Mann der Vernünftige sein kann, der sich mit geistigen Dingen beschäftigen darf (vgl. Adorno/ Horkheimer: 264). Basierend auf dem Begriff im Sinne Kants Kritik, dass Frauen „Hausvieh“ sind und nicht vernünftig denken können, wäre die Aufgabe der Protagonistin nichts anderes als eine ihrer archaischen Dienstaufgaben in der traditionellen Gesellschaft gewesen - hier die Versorgung der Tiere (vgl. Kant, [1784] /2004: 5) - so scheint die unvernünftige Protagonistin dort allein in dem Wald genau auf ihrem geeigneten Platz zu sein (vgl. DW. 222). Diese Idee ist abgezielt und symbolisiert auch die vom Patriarchat systematisch auf Frauen ausgeübte Deklassierung.
Ein weiteres anthropologisches Differenzkriterium aus der Sicht der Human-Animal Studies ist die Frage nach dem Vorhandensein einer Seele (Zimmermann, 1984: 94- 95). Diese Frage stellt sich die namenlose Ich-Erzählerin im Zusammenhang mit den Motiven des Todes, des Sterbens, des Tötens, der Gewalt und der Trauer (vgl. DW. 150). Im Roman kontrastiert die Todsymbolik mit einer geschilderten vitalistischen Lebenseinstellung in einer einfachen ländlichen Agrarkultur, deren Erinnerungsbilder jedoch bis in die Kindheit zurückreichen und obsessiv im Text auftauchen. Die Schatten der Vergangenheit der Protagonistin ähneln Toten (getöteten Tieren und Menschen jenseits der Wand sowie ihren eigenen Tieren), die ihr eigenes Gedächtnis, ihre Traumata und Träume geprägt haben.
Im Laufe des Romans wird die Speziesgrenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem dekonstruiert und als ‚Illusion‘ bezeichnet (vgl. Derrida, in: Hastedt, 2011: 199). Nach der Entstehung der Wand beginnt die Protagonistin, ihre neue, merkwürdige „Familie“ wahrzunehmen und begreift, dass Tiere ebenso wie sie überleben müssen (vgl. DW. 47). Gleichzeitig zeigen die Tiere ein Bedürfnis und einen Willen nach Wissen und Verstehen. Dieser Wille zum Fremdverstehen in seiner doppelten Funktionalität verwandelt sich in einen Machtwillen zur Erkenntnis: Es befindet sich an einem „Ort des Dazwischen“, der vom Bewusstsein und Verständnis des Anderen und zugleich des Eigenen getragen wird und eine ‚dritte Dimension‘ darstellt. Diese Dimension untergräbt in existentieller, psychologischer und Derridascher Hinsicht unweigerlich auch eine tierliche Alterität (vgl. Steiner, 2010/1: 7-8) und berührt damit das Verborgene der Protagonistin selbst:
„Die Schranken zwischen Tier und Mensch fallen sehr leicht. Wir sind von einer einzigen großen Familie, und wenn wir einsam und unglücklich sind, nehmen wir auch die Freundschaft unserer entfernten Vettern gern entgegen. Sie leiden wie ich, wenn sie Schmerz zugefügt wird, und wie ich brauchen sie Nahrung, Wärme und ein bisschen Zärtlichkeit […] (DW. 235)
Ausgehend hiervon wird deutlich, wie die Ich-Erzählerin mit einer enthierarchisierenden Dekonstruktion der Grenzlinie zu ihren Tieren im Sinne Derridas eine Neuverortung zu sich selbst einhergeht - als neue Wahrnehmungs- und Selbsterkenntnismomente. Das daraus resultierende Element des ‚Dritten‘ impliziert in diesem Rahmen das Bewusstsein der Differenz und die Akzeptanz des Anderen. Dies zeigt sich vor allem auch an der Schmerzkomponente und gemeinsamen Leidensfähigkeit (vgl. Derrida, 2000 : 22), von der aus sich diese Affinität bis zur totalen Unterschiedslosigkeit steigert und so teilweise zur Aufhebung und Relativierung des Gegensatzpaares Natur vs. Kultur führt (vgl. Adorno/Horkheimer : 298).
Tiere und Ich-Erzählerin scheinen sozusagen Mitglieder einer einzigen großen Familie geworden zu sein. So wird vor allem an vielen Hund-Ich-Figur Beispielen die ideale Freundschaft, Solidarität und Gebundenheit weit über alle Grenzen illustriert (vgl. DW. 39).
Darüber hinaus greift die Autorin das Prinzip der „Ersatzmütterlichkeit“ (vgl. Strigl, 2007 : 136) der Protagonistin für die Tiere als weiteres Merkmal der Grenzverschmelzung zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Spezies auf und etabliert damit eine neue, von Frauen positiv verkörperte weibliche Moral, die sich gegen die patriarchale richtet. Laut Nolte verleiht Haushofer der weiblichen Lebens- und Liebensmoral nicht nur einen emanzipatorischen und Widerstandsgestus, sondern auch eine utopische Dimension, indem sie Liebes- und Hoffnungsperspektive eröffnet (vgl. Nolte, 1992 : 64 u. 68).
2.2. Metaphorik und Allegorisierung der Tierfiguren
Die ästhetische Darstellung konkreter Grenzvermischungen zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Spezies auf der weiteren romaninternen symbolischen Ebene erfolgt bei Haushofer über Anthropomorphisierungen und Theriomorphisierungen8, die sie allegorisch, selbstreflexiv bzw. textmetaphorisch inszeniert.
Die anonyme Ich-Erzählstimme neigt dazu, manche Tiere mit romantischen Vorstellungen auszuschmücken und suggeriert, so dass sie die menschliche Sprache dem Wortlaut nach verstehen. Sie behauptet: „Luchs verstand alles, was ich sage, wusste, ob ich traurig oder heiter war, und versuchte auf seine einfache Art, mich zu trösten“ (DW. 51). So ist der Hund Luchs laut Strigl „wohl-personifizierte- menschlichste Tierfigur“ [Strigl: 268].
Jene anthropomorphisierende Beschreibung setzt sich in der Darstellung der anderen Tierfiguren, nämlich der Katze und der Kuh Bella, fort. In einer bestimmten Situation, in der die Katze im Kontakt mit der Protagonistin sehr ängstlich und misstrauisch reagiert, glaubt sie, dass die Katze sie besser kenne, als sie sich selbst (DW. 50), oder übersetzt ihr Miauen in Menschensprache: „Hrrr, grrr, mau, sagt sie, und das mag heißen, man wird ja sehen, Menschenfrau, ich möchte mich nicht festlegen“ (DW. 52). Die Katze ist in der Lage, die Hysterie der Frau zu missbilligen (ebd., 71) und wird als „gerissenes Frauenzimmer“ (ebd., 175) charakterisiert. Diesen Szenen liegt ein theriozentrischer Perspektivenwechsel Zugrunde. Interessant ist daher, wie die Autorin das Motiv der „Benennung“ (vgl. Zimmermann: 183-184) der Katze als „Menschfrau“ und somit die „Namenlosigkeit“9 der Protagonistin ironisch aufgreift und kommentiert. Dies verweist auf die Identitätskrise der Ich-Erzählerin und ihre Entfremdung von der Menschenwelt und mag zeigen, dass sie dennoch ihren eigenen Namen vorsätzlich verbirgt (vgl. DW. 44-45).
Außerdem wird angedeutet, dass Tiere vernünftiger sein können als ihre menschlichen Partner. Das Wort „vernünftig“ oder „Vernunft“ wird im Roman vielfach und explizit in Bezug auf Tiere und ihr Verhalten verwendet:
Bella war vernünftig und ich konnte mich auf sie verlassen, die Vernunft saß bei ihr im ganzen Leib und ließ sie immer das Richtige tun […] (DW. 266)
An anderer Stelle heißt es weiterhin:
Er wollte, dass ich weiter ging. Er war vernünftiger als ich, und so ließ ich mich von ihm von den Steindingern wegführen. (DW. 56)
Die obigen Zitate veranschaulichen eine Umfunktionalisierung der Tiermetaphorik, die die gängige Vorstellung von vernünftigen Menschen im Gegensatz zu Tieren in Frage stellt. Zudem drückt die Ich-Erzählerin eine Art provokante Theriomorphisierung aus, indem sie die Menschen als „wahre Tiere“ und „einzige Feinde der Welt“ bezeichnet (vgl. DW. 23), während z.B. die Kuh Bella sich in kurzer Zeit mehr als ein Nutztier erweist und als sehr vernünftig beschrieben wird. Hierbei kann die menschliche Vernunft auf zwei dualistische Momente ausgerichtet werden : einerseits auf eine destruktive Vernunft, die unter anderem für die Entstehung der Wand verantwortlich ist, und andererseits auf eine gezielte subversive Provokation und die Suche nach einer neuen, offenen Gesellschaft, in der idealerweise Ethik vorherrscht (vgl. DW. 21).
3. Die romantische Naturlandschaft als ökopoetische und reformgründende Erkenntnis
Marlen Haushofer geht in ihrem Roman von Naturlandschaften aus, die sie neu komponiert. Ihr Roman weist anfangs das stilisierte Bild einer idyllisch-romantischen Stimmung, aber bedrohlichen Natur auf, die das Innenleben der namenlosen Protagonistin, ihre Erfahrung einer ungewöhnlichen und schrecklichen Katastrophe und ihren Verfall in einem apokalyptischen Raum repräsentiert, wodurch die Beziehung zwischen Natur und Zivilisation auf metaphorische und allegorische Weise materialisiert wird (vgl. DW. 27).
Durch die Repräsentation einer utopischen und apokalyptischen Vision, setzt Haushofers anthropologischer Ansatz das Chaos und die Destruktivität der modernen Zivilisation — trotz ihres materiellen Komforts, als Kontrapunkt zur Unschuld und Ohnmacht einer vitalistischen biotopen Sphäre und eines naturnahen Lebens. Diese Naturtopoi bestehen in der Ko-Relation einer Ästhetisierung der Gedankenlandschaft (Collot, 2015: 151-159) und des ökokritischen bzw. ökopoetischen Diskurses, der Teil Zivilisations- und Kulturkritischer Studien ist (Aberkane, 2021/2: 115).
Dementsprechend tauchen Landschaftsfiguren wie ‚Wald‘ und ‚Berge‘ als leitmotivische und ambivalente Topoi im Roman auf. Die idyllische Postkartenlandschaft ist beispielsweise mit den Elementen ‚Blumen‘, ‚Wasser‘, ‚Wiese‘, ‚rhythmische Jahreszeiten‘, ‚Regen‘, ‚Sonne‘ und ‚Dämmerung‘ allgegenwärtig. Diese romantische Idylle verwandelt sich jedoch gegen Ende des Romans in eine Horrorszene extremer Grausamkeit und Gewalt durch ein unbenanntes männliches Subjekt gegenüber Tieren, gefolgt von einer Beschreibung des Todes (vgl. DW. 162-200-275). Die daraus hervorhegende Anspielung auf faschistische Gewalt wird sogar mit der anfänglichen Erwähnung des Krieges auffällig und steht damit stellvertretend für systematische Gewalt gegen die Natur (vgl. Horkheimer, [959]/1985: 105-106). Die Protagonistin stellt weiterhin ein Netz von Konnotationen mit der Kriegsstimmung heraus, die im Roman wörtlich mit „Atomkriegen“, „Gift“ und Zerstörungsmitteln assoziiert wird. In diesem Kontext werden auch die Wissenschaften in Bezug darauf gebracht und kritisch beleuchtet (vgl. DW. 41-42).
Der Wald dient hier vor allem zu Beginn und in der zweiten Hälfte des Romans als Ort für Antizipation und als Warnsignal für plötzliche und mögliche Risiken, wird so zu einem geopoetischen10, ökopoetischen und ökologischen Menetekel im Zeitalter des Anthropozäns. Der Wald fungiert weiterhin als Repräsentant der kindlichen Fantasie der Schriftstellerin, genauer gesagt als Symbol für das Andere, das Unterbewusste und die Ängste, welche die Erzählerin durch Reflexion, Erinnerung und Traum der erlebten Ereignisse zum Ausdruck bringt (vgl. DW. 130, 212-213).
Die Diskrepanz zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen im künstlerischen Formgebungsprozess bei Haushofer betont die Kontingenz historischer Ereignisse – insbesondere im Kontext beider Weltkriege – und ihre Zeitbrüche als einen zentralen Aspekt kultur- und zivilisationskritischer Ansätze einer projizierten und fiktionalisierten Realität. Dieses anachronistische Konzept bildet die Rückseite für ein Nirgendwo, ein „Niemandsland“, eine Utopie, die auf vergangene und aktuelle Erkenntnisse Bezug nimmt und sich im Roman an den Idealen der österreichischen Romantik orientiert. Ein prägender Topos in DW. ist die ‚Alm‘ (vgl. DW. 148), in der die Zeit aufgelöst scheint, jedoch bleibt die Handlung dynamisch. In diesem Zusammenhang manifestiert sich die Zeitlichkeit des Seins im Raum (vgl. Heidegger, 2000: 365). Analog dazu betont Proust eine Erfahrung der Lebenszeit (vgl. Stierle, 2008: 11-12), bei der Haushofers Erzählerin zu einem fragmentarischen Ich wird und sich auf die Suche nach der „wahren“ Zeit bzw. dem Leben im Tod begibt (vgl. DW. 238 u. 277). Der ästhetisierte Landschaftsraum wirkt somit als verortende, reformgründende Erkenntnis des Anderen bzw. als Gefahr und Intellektfeindlichkeit, entlarvt alle Verweigerungsformen des Nihilismus, nämlich des Pessimistisch- Dunklen und Tragischen.
4. Die Arbeit, ein Umkehrungsprozess in positiver Resignation
Nach dem Einsturz der Wand und der plötzlich apokalyptischen Stimmung, die die Welt angenommen hat, beginnt die Protagonistin aus Not für sich und ihre Tierfamilie, die Isolationsgrenzen abzustecken, um inmitten des schrecklichen Wald-Chaos eine neue Ordnung zu schaffen (vgl. DW. 26). Hierbei setzt sie auf harte konsequente Arbeit sowie handwerkliche Geschicklichkeit als Überlebensstrategie und Resignationsanker. Bei der Anlage ihres ersten Kartoffelackers zur Nahrungsbeschaffung (vgl. DW. 46-125) erfährt sie am eigenen Leib die Mühsal körperlicher Arbeit.
Diese Textstellen weisen auf ein wichtiges Urphänomen menschlicher Existenz hin: die Rückkehr zu primitiven Zeiten, zu einer einfachen Ackerbau-, Jäger- und Sammlerkultur, die historisch gesehen einen Wendepunkt darstellt. Haushofer kontrastiert hierbei Bilder der ursprünglichen Natur mit vitalistischen Vorstellungen, die die urbane Welt umranken. Die paradigmatische Kontrastierung dieser Raumkonfigurationen verdeutlicht den Verlust zivilisatorischer Errungenschaften und damit den Wegfall der Kulturgeschichte. Die Erzählerin stellt fest, dass ihr Mehl (vgl. DW. 43) und Zucker (ebd., 205) ausgegangen sind, die Uhren bleiben stehen und die Vögel nisten in Hugos Mercedes (ebd., 222). Am Ende des Romans wirft sie erneut einen Blick auf das Autowrack und beschreibt es als „Ding“, da sie es nicht mehr als kulturelles Statussymbol identifizieren kann (ebd., 222). Brüns bezeichnet das Autowrack in diesem Kontext als „Todessymbol einer technokratischen Kultur“ (Brüns, 1998: 151). Es wird zugleich jedoch auch als „Leichenwagen“ betrachtet, aus dem neue Lebenskomponenten erblühen. (vgl. Laumont, 2000: 115).
Arbeit und Zeit sind für die namenlose Protagonistin eng miteinander verknüpfte Komplexe. Die Uhren sowie der Wecker symbolisieren eine konservierte Alltagsnormalität im Kontext menschlicher Gesellschaftsordnung (vgl. DW. 64), welche jedoch im Wald verloren und kaputt gegangen sind (vgl. DW. 8). Die Protagonistin scheint kein Interesse daran zu besitzen, sich auf eine Zeitlosigkeit einzulassen. Stattdessen ersetzt sie die bekannte Zeiteinteilung durch die Krähenzeit oder orientiert sich an Sonne, Mond und Jahreszeit (ebd., 64). Am symbolhaften Beispiel einer „weißen Krähe“, die von ihren schwarzen Artgenossen ausgegrenzt wird (vgl. DW. 207), zeigt die Autorin weiterhin die gesellschaftliche Ausgrenzung ihrer Erzählerin und damit ihrer selbst. Diese Motive dienen als komisch-karnevaleske Inszenierung und Allegorie des Einen und des Anderen – der Dyade11 Die Allegorie des Animalischen artikuliert sogar eine Kritik jenseits der Normativität, des Unbehagens und des Sinnverlusts einer urbanen und patriarchalen Gesellschaft auf der Metaebene (vgl. DW. 64).
Die Arbeitsthematik behält weiterhin einen zivilisations- und womenskritischen (Romero Pérez, Rosalía, 2011: 47) Charakter und verdeutlicht die Angst der Protagonistin davor, von einem männlichen Subjekt erneut ausgebeutet zu werden:
Auf jeden Fall war er körperlich stärker als ich, und ich wäre von ihm abhängig gewesen. Vielleicht würde er heute faul in der Hütte umherliegen und mich arbeiten schicken. Die Möglichkeit, Arbeit von sich abzuwählen, muss für jeden Mann eine große Versuchung sein. […] Nein, es ist schon besser, wenn ich allein bin. Es wäre nicht gut für mich mit einem schwächeren Partner zusammen zu sein, ich würde einen Schatten aus ihm machen und ihn zu Tode versorgen. (DW. 65)
In dieser Passage klingt eine deutliche Kritik an alten Arbeitsverhältnissen und patriarchalen Nützlichkeitsstrategien an, die zur Entfremdung und zum Identitätsverlust von Frauen beitragen. An anderer Stelle äußert die Protagonistin, dass sie sich lieber selbst ausnutzt, als sich von einem Mann ausnutzen zu lassen (vgl. DW. 66). Angesichts ihres Überlebenskampfes im Wald werden bei ihr auch Transformationsprozesse in Gang gesetzt. Explizite Anzeichen für eine Metamorphose finden sich in ihrem Körper, und zwar im Ablegen weiblicher Attribute, das sie nie bereut, sondern als fortgeschrittenes Stadium ihrer individuellen Evolution betrachtet (ebd., 75). Die Darstellung jener Umwandlungsprozesse vermag eine Kritik am gesellschaftlichen Schönheitsideal aufzuzeigen.
Im Rahmen ihrer physischen und reflektiven Tätigkeit gesellt sich auch das Schreiben des Berichts hinzu. Dies ergibt sich aus dem Bedürfnis nach einer Zeugenschaft, als Musstätigkeit und Rettung vor Wahnsinn und Verschwinden (vgl. DW. 7). An dieser Stelle ist die Rolle der mnemotechnischen Spuren bei diesem Rettungsverfahren hervorzuheben. So sehr gelang es der Protagonistin, sich durch die Verwendung von Hugos Kalendernotizen (vgl. DW. 129) und ökopoetischen Ritualen sowie ihrem Sinnes- und Körpergedächtnis an ihre frühere Arbeit auf der Erde zu erinnern. Sie überführt diese Seins-Situationen in einen positiv umgewerteten Resignationsprozess. Diese Elemente dienten als kulturelle mnemotechnische Speichermedien (vgl. Assmann, 1999: 130). Sie helfen der Protagonistin, sich besser an die Anforderungen des Lebens in der Natur anzupassen und ihr bis dahin unterdrücktes kontemplatives und autonomes Ich zu entdecken und zu gewinnen.
Schlussfolgerung
Haushofers Roman Die Wand ist eine umfassende Zivilisations-, Kultur- und Wissenskritik, die sich insbesondere auf die damit verbundene Identitätsproblematik und den beklagten weiblichen Identitätsverlust bezieht. Im Roman werden die thematischen Grenzüberschreitungen verschiedenen Kategorien zugeordnet, da sie einen liminalen Randort eröffnen, an dem die Erzählerin zwischen ambivalenten und multiplen Linien (Bildern, Zeiten, Orten, Realitäten etc.) oszilliert und zugleich ausgeschlossen wird. Diese Grenzbereiche sind auch geo- und ökopoetische Heterotopien und Transiträume, die ein utopisches, künstlerisches und projektizierendes Klima schaffen, das auch Räume der Transgression und der Negation gegen die mehrfach codierten und tradierten symbolischen (Diskurs-)Ordnungen errichtet. Die fantastische Bühne des Romans dient als unmittelbarer Schauplatz für Szenen der Angst, des Schreckens und der Gewalt. Diese Szenen verwandeln sich jedoch in eine Ästhetik des Widerstands gegen die Wunden vergangener bzw. gegenwärtiger Ereignisse durch die Entdeckung der Körperarbeit und das Leben mit Tieren. Dieser Umkehrungsprozess vollzieht sich über den Körper und die verschiedenen Wahrnehmungssinne, wird zu einer Gegengeschichte mit neuer politischer Tragweite. Der Körper und somit Die Wand sind Orte der Verdoppelung und stellen einen Zugang zur Etablierung von Identitätskonstitutionen dar. Das Schreiben wird durch die Protagonistin als Voraussetzung für das Aufbegehren gegen repressive Strukturen poetisiert. Durch die Umfunktionalisierung von Naturtopoi, Tiermetaphorik und den Rückgriff auf primitive Kulturen gelingt es Haushofer aus kulturkritischer und anthropologischer Perspektive, die Denkmuster der westlichen Moderne zu dekonstruieren, wobei sie diese mit Machtausübung, Verdinglichung und erneuter Assimilation durch die Wissenschaften assoziiert. Dabei gelingt es ihr auch, die im Diskurs etablierte Speziesgrenze zwischen Menschen und Tieren aufzuhellen, indem sie sie teilweise aufhebt und damit eine verbundene Alterität offenlegt. Haushofer schreibt ihre ästhetische Poetik aufgrund einer Geschichte der modernen Seele, die sich nicht nur auf die Suche nach einer anderen, neuen, zwar schmerzlichen, aber offenen Welt begibt, sondern im Sinne des Ökofeminismus auch eine weibliche Solidarität und Moralität mit allen Schichten und Lebewesen (Tieren, Natur und Menschen) repräsentiert und trägt. Die Wand wird zum Speicherraum gegen die Mechanismen systematischer Unterdrückung, Gewalt und Zerstörung der Welt und zur mnemotechnischen ökologischen Warnschrift im Zeitalter des Anthropozäns.