Einleitung
Der polyphone Roman Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis2 bietet am grundlegenden Stoff zweier Expeditionen in die Arktik – 1872 und 1981 als Mazzinis Reise auf die Suche nach Spuren der ersten – eine revidierte und kritische Lektüre, Relektüre der Historie, der Kultur, genauer Zivilisationsgeschichte in ihrer Verwicklung mit der Wissenschaft, der Ordnung und einer standesbedingten Sozialgeschichte sowie bisheriger Klassifizierungsverfahren historischer Prozesse von Kultur der Dominanz gegenüber ungeschriebener kleiner Geschichten an. Dieses dialogisch dramatische, zugleich vielschichtige Konstrukt – über « Expeditionen in den Nordpol » – stellt die bisherige Geschichtsschreibung und Kulturgeschichte in ihrer zentristischen Ideologie, einem siegreichen Logos befangenen und verpflichteten Wissenschaftsgeschichte und Heldengeschichte in Frage. Der Roman ermisst am Beispiel dieser Expeditionen in den Nordpol die Folgen einer Herrschaftsordnung, Geschichtsauffassung, Wissenschafts-geschichte und Wirkung einer Ordnung, eines Wissens auf Menschen in vielerlei Lebensbereichen, deren Schicksal, Trauer- und Opfergeschichte unvermittelt, unreflektiert und als Leerstelle geblieben sind, und Ransmayrs schöpferische Geopoetik rechtfertigen (DSEF, S.142 ff.). Zwei Leerstellen dominieren zuerst in der von Ransmayr rekonstruierten Weltkarte und geografisch breitangelegten Erdgeschichte unbekannter Nordregionen und Tropen, dann auch ungeschriebener Parallelgeschichte über die innere Leere, Empfindungen, das Unsichtbare der beteiligten Matrosen und ausgenutzten einfachen Menschen. Er führt bei dieser Vielschichtigkeit und Stratifikation eine doppelte geografische Karte, zusätzlich zur topographisch unbekannten Arktis ein Geflecht von Querverbindungen, wahrheitssuchender philosophischer Exploration, die Ideologisierungen und Verbindungen, Verwicklungen mit Herrschaft, Machtmechanismen und Interessen implizieren und aufdecken : « Die Zeit ist ein Tümpel, in dem die Vergangenheit in Blasen nach oben steigt. » (DSEF, S. 166).
1. Geschichtsrekonstruktion transhistorischer « Erdgeschichte », eine Geopoetik
Ransmayr ersucht mit seiner heterogenen, dicht dokumentierten Materialmischung und bei zeitlichen Abständen andere Spuren, « Trace » und bietet eine Grenzüberschreitung, Entgrenzung und Transversalität an, vor allem ein Rhizom aus Verschränkungen aller Bereiche. Er eröffnet Blicke, Fenstern auf Ränder, die von einem dirigierenden ausnutzenden Wissen und geschichtlicher Verarbeitung von Expeditionen und wissenschaftlicher Erkundung des Kosmos ausgeschlossen und dem Vergessen amnetischer Erkenntnisprozesse überlassen waren. Dieser auf einer Achronie beruhende Diskurs Ransmayrs vereint eine historisch-geografische Begegnung mit unbekannten Regionen durch Exploratoren mit einer literarisch schöpferischen Exploration von einem Inneren, seiner und der von Exploratoren. Diese letzte impliziert eine Bilanz, eine Genealogieder Gewalt, Lektüre von Ereignissen und Problematiken von seiner Gegenwart aus und aus der Sicht postmoderner Perspektive. Die parataktische, strukturell logische Setzung seines Korpus’, von schriftlichen aber auch malerisch-ikonischen Zeugenschaften und Zeichenhaftigkeiten, von Akteuren, Beteiligten an der Expedition – zuerst aus dem 19. Jh. (1872) dann dem 20 Jh. (1981) – legen eine geografische Semiotik auch parallele Rückblicke auf erste koloniale Eroberungen ab dem 11. Jh. und Kartografie von Verwandtschaften, Analogien aber vor allem eine philosophische Annahme impliziter originärer dialektischer Oppositionen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem offen.
Ransmayr erhebt entsprechend einer historischen Philosophie und Zeitstimmung der 80.er Jahre alle Stimmen und Zeugenschaften zu Notwendigkeiten einer gerechteren Geschichtsrekonstruktion transhistorischer« Erdgeschichte » (S. 84), eine teleologische Rekonstruktion einer Philosophie der Geschichte, Geschichtsanthropologie, aber auch Sozialgeschichte zu unmittelbaren Korrekturen « gegen den Strich ». Die dramatische Aufführung, diskursive Unmittelbarkeitseiner Vielstimmigkeit durch Zitate, Chroniken, Briefe etc., Multiperspektivität bisher ausgelassener Stimmen – verblassender Aufzeichnungen und Zeugenschaften aus den Archiven –, erheben seinen Dialogismus und die breitangelegte Zeitlichkeit eines Jahrhunderts zur Negation aller Formen von Schrecken. Diese Struktur und der Ästhetisierung konstruierter Wirklichkeit, setzt auch eine Geschichtsschreibung in deren originären inhärenten Paradoxie und Dialektik zur expliziten frontalen karnevalesken « Parodie Menippae »3 gegen eine vergessliche, diskriminierende machtgepflegter historischer Lücken einer ideologisierten Selektion – durch. Sein Konstrukt ist gleichzeitig epistemologisch als Mechanik eines Erkenntnisweges, das das Eine und Andere philosophisch rehabilitiert.
Ransmayr öffnet seinen Blick auf Zwischenräume, andere Territorien und verbindet die Wahrheit einer Geschichtsschreibung mit Opfern einer historisch und geografisch breitangelegten Kolonisierung, die im folgenden Zitat einer gewaltigen Umkehrung und Ironisierung ausgesetzt und faktisch an Zitaten aus Chroniken und Zeugenschaften belegt wird. Seine historische Querverbindungen und Grenzüberschreitungen betonen zusätzlich zur originären Antinomie und Opposition eines philosophischen Denkens die Zirkularität unbelehrbarer menschlicher Geschichte und Ethik, aber auch eine Infragestellung herrschender unkritischer Erkenntnisprozesse und -wege. Diese parallele Kehrseite einer Kolonialgeschichte Europas in den « Tropen »erkennt und liest der Autor als Gegenwahrheit « unmißverständliche Wahrheit » und neue Territorialisierung von Opfergeschichten, bisher instrumentalisierter Subjekte/Objekte, die am Ende ihrer Lebens – wie am Beispiel von Weyprecht und Payer die Schrift, Vorträge und Malerei (s. Kap. 18) als Kraft innerer originärer Weigerung und Gedächtnisarbeit von Opfern benutzt und ausgenutzt haben, und damit das dominante, dominierende Paradigma einer einseitigen offiziellen Geschichtsschreibung umkehren.4 Den ausgelassenen Opferstimmen übergibt Ransmayr aus dem Nachlass und Archiven das Wort und gründet eine Reterritorialisierung der Parole und Spurensicherung.5Er nutzt die Kraft einer anarchistischen Anthropologieaus, die eine Intertextualität mit der Philosophie vergangener Jahrzehnte, eines ganzen Jahrhunderts sogar, seit Nietzsches Affengestalt, aber vor allem Walter Benjamins « Blick gegen den Strich » nicht verbirgt. Die Struktur, das Konstrukt in DSEF ist eine offene Bühne und Inspiration, die ein literarisiertes und philosophisches Pendant zu Deleuze’ und Guatarris « Mille Plateaux » (1979) bietet, und auch die Stimme von Kolonisierten zitiert und als Gegenperspektive zur zentristischen Macht rehabilitiert.
Denn die unmißverständliche Wahrheit dieses Zeitalters der Entdeckungen wurde nicht in den Kosmographenstuben Europas aufgezeichnet, sondern in Berichten wie jenem Náhualt-Text der Azteken, der das Bild des europäischen Auftritts überlieferte : « Die Kalkgesichter waren entzückt. Affen gleich wiegten sie das Gold in ihren Händen oder setzten sich mit dem Ausdruck des Vergnügens zu Boden, und ihr Gemüt schöpfte neue Kraft und erleuchtete sich. Ihr Leib [...] » (S. 52)
Am Anfang dieser überwältigenden Epoche standen - wie immer in großen Zeiten - Heldengestalten ; sie wurden den nachgeborenen Eismeerfahrern zu Idolen und sind auch uns stets vertrauter geblieben als die Kulturen, zu deren Zerstörung ihre Abenteuer schließlich führten : der Genuese Cristoforo Colombo alias Cristóbal Colón unternimmt in den Jahren1492 bis 1504 vier Seereisen in westlicher Richtung über den atlantischen Ozean. (DSDEF, S.52)
2. Nostalgie eine Trauerarbeit, rehabilitiertes Gedächtnis und Gerechtigkeit
Die Konstruktion des Diskurses Die Schrecken des Eises und der Finsternis bestätigt sich nach Die letzte Welt als Suche des Philosophen, Journalisten und Schriftstellers Ransmayr nach dem Humanen, das am ehesten von seiner Literatur und generell durch sie als Zukunft einer Vergangenheit und neben den Humanwissenschaften über das Andere im Menschen, von einem unsichtbaren Inneren, eines Körpers, auch über andersartige, benachteiligte Sozialitäten, auch intimsten Empfindungen der « Verlassenheit », « Angst », « Leere », « Verzweiflung », implizit am allegorisierten « Wuthgeheul » der « Eisschollen » erzählt. In Einem, sowohl Natur als auch das Lebendige einer Originität werden anders repräsentiert und wahr wahrgenommen, auch zur wiederentdeckten, revidierten Objektivität gegen eine konservative Auffassung von großer Geschichte und Ethik erhoben. Christoph Ransmayrs vielschichtige literarische Bühne und Zeit einer Parole steht den Ausgenutzten zu, deren Körper nicht nur unter dem eisernen Eis eines Nordpols, sondern auch von Hierarchisierungen, Statistiken unterdrückt, ausgelassen und ungeachtet blieben (S.127, 129). Er bezieht konstant Analogien mit tropischen Regionen als Topographien und Geschichte paralleler Unterdrückung, Deklassierung und Ausnutzung ein. Die « Melancholie » (als Titel des 7. Kapitels) ist der dominante Ton seiner der Zeit nachtrauernden Repräsentation, und betrifft sowohl Menschen als auch die stark allegorisierte Natur. Aus dem folgenden Zitat ist eine fast obsessionell vorkommende Intertextualität und Nähe zum Roman Die letzte Welt (DLW). Der zivilisationskritische, postkoloniale Blick und die anachronistische Zeitstruktur und Form Ransmayrs entsprechen einer Konstante, offensichtlichen Trauer – und Erkenntnisgeschichte über die Einsamkeit von Menschen, einer Negativität, die sein Gesamtwerk durchstreift.
Ransmayrs Mosaik aus Stimmen, historischen Tatbeständen und Kommentaren aber auch poetischen Zitaten und intermedial-künstlerischen Bildern und Verarbeitungen, erstrebt eine Revision des Wirklichkeitsbegriffs, den der Autor bereits Anfangs als teilbar definiert : « Die Wirklichkeit ist teilbar »6, erstens weil bestimmte Subjekte sowohl der Objektation und aus der Welt des « Logos » und « Alphabets », dem Ausschluss und Schweigen ausgesetzt waren/sind, zweitens als Folge der ersten einer sozialen Deklassierung und Entsubjektivierung unterliegen. Ransmayrs archäologische anachronische und transhistorische Ausgrabung von Archiven der Macht, des Schreckens und der Instrumentalisierung von Körpern führt hier in dialogischer Unmittelbarkeit eine Gegengeschichte, eine Umkehrung der Absenz wahrer Geschichtsschreibung über kleine Leute – als übersehene Akteure – in eine neue Präsenz und Parodie der ersten.7 Darin wären die minimale Gerechtigkeit und moralische Entschädigung vor Schrecken der Zeiten und einem Vergessen identifiziert. Diese Geschichtsschreibung ist einem Publikum des sensiblen Logos und der Poesie gleichzeitig als wahrer Erkenntnisprozess provokativadressiert ; sie umschreibt zugleich den Mythos als Ursprung und Literatur, aber auch als neue « Herkunft », korrigierter geschichtlicher Bruch so wie Nietzsche den geschichtlichen Neuanfang als « Herkunft », Zukunft verwandelter, wiederholter Vergangenheit nennen würde.8 Ransmayrs Form und Erkenntnismoment trauert der Lücke und Wiederholung von Schrecken nach. Historische Wirklichkeit und Literatur begegnen sich bei dieser Suche Ransmayrs nach einer Wahrheit über Menschenschicksale. Diese von einem New Historicism und einer Postmoderne inspirierte Auffassung von Geschichte, Kultur-, Zivilisationsgeschichte und Kritik bildet Ransmayrs Motivation für eine offene Form und Poetik, Bühne und diskursive Konstruktion zeitlicher Gleichzeitigkeit aus Ungleichzeitigkeiten in DSEF.9
Am Bildschirm erscheint eine tropische Landschaft, dann eine Karte Afrikas, auf der sich weiße Pfeile wie Ungeziefer sich bewegen. Militärkolonnen. Mazzini tritt an den Billardtisch. Er hat sich an den Ton gewöhnt, in dem man hier miteinander umzugehen scheint ; eine Sprache der nichts ernst ist. Eine Woche in Longyearbyen hat ausgereicht, um ihm die einfachen Ordnungen und engen Schauplätze des gesellschaftlichen Lebens der Grubenstadt vertraut werden zu lassen. (DSEF, S.127)
3. Die Struktur, ein « Schauspiel » chronotopischer Gleichzeitigkeit, ein Mythos als Grenzüberschreitung
Mazzinis Verschwinden 1981 in dem Nordpol auf der Spur der Expedition von 1872 und seine fatale Reise ohne Rückkehr waren der Beweggrund für Ransmayrs Schreibunternehmen und Suche nach Gerechtigkeit und Abrechnung mit einer Geschichte des Vergessens.
Die kreative und engagierte diskursive Organisation und offene Form des vom Autor als « Roman » bezeichnetes Werk DSEF (1984), führt eine generalisierte und transhistorische Grenzüberschreitung, ein « Schauspiel »,vielstimmiges, -schichtiges « Drama » pluraler zeithistorischer Ereignisse und auch malerischer Bilder auf, zuerst zweier Expeditionen in die Arktis aus den Jahren 1872 und wieder1981 als Spurensuche Mazzinis nach « Trace » der ersten. Sie legt wiederholt Ransmayrs Vorliebe für verfremdende Konstruktionen, plurale Zeichenhaftigkeit, Sinnkonstruktion und Rekonstruktion, die alle Kodex, eine erzählerische Buchstäblichkeit neben intermedialer Variation von fotografischer, malerischer Repräsentationen und Zeugenschaft schichtenartig stratifiziert, mit dem Ziel die neu ausgegrabene Vergangenheit als das neue Andere, als zweite Reise und Erfindung von Welt zu inszenieren, und die hier die Literatur in ihrer Erfindung aber auch Ausgrabung von Leiden, geschichtlichen Ereignissen umschreibt und einschließt. Die unendliche Inszenierung von Bildern in Bildern, Landschaften in Landschaften, aktualisieren nicht nur eine unmittelbare ästhetische Arbeit, ästhetisierte Wirklichkeit (als « Mille Plateaux »), sondern auch die endlose Wiederholung einer Obsession, eines Leidens an der Zeit und der Geschichte, bei der Ransmayr selbst seine Blätter mit « papierenen Meeren » und « Wüsten »vergleicht. Dieses Spiel mit der Tiefe ist zugleich Ransmayrs Obsession und Wahrheitssuche. Sie lassen auch seine Hoffnung auf die Literatur und Kunst zum Kern seines Schreibens gegen die Indifferenz, Gleichgültigkeit und Austauschbarkeit ausdrücklicher werden : « Hofphotograph Burger steht reglos zwischen aufeinandergetürmten Schollen und starrt durch sein Objektiv auf das Ende der Welt : kahle schwarze Klippen, Himmel und Eis (DSEF, S. 83).10
Die durchblickende Autor-Figur ersucht und befragt Mazzinis Beweggrund für seine Reise in den Nordpol, aber auch seine erstaunliche Kunstauffassung und von Repräsentation : « ob es in der fernen oder jüngsten Vergangenheit jemals wirkliche Vorläufer oder Entsprechungen für die Gestalten seiner Phantasie gegeben habe » (DSEF, S. 21). Die Unwahrscheinlichkeit von Mazzinis Reise erhebt diesen letzten zum Doppelgänger unserer Autor-Figur in DSEF. Die dominante Struktur einer Achronie in den Werken Ransmayrs überschneidet sich mit seinem Interesse für Mazzinis Konzept vom Schreiben von Zukunftsromanen. Die Unwahrscheinlichkeit von Mazzinis Reiseentscheidung wird zur fiktiven Vorlage für Ransmayr und erweist sich als Überschneidung mit philosophischen Konzepten und Paradigmen, die seit den sechziger, siebziger Jahren, wenn nicht schon seit Nietzsche und Walter Benjamin in den 30er. Jahren von Aktualität sind und ambivalente Beziehungen, Antinomien und das Paradox als Konzept einer Negation der Einseitigkeit und Einheit wählen. Die Zukunft wird bereits vorbestimmt und scheint in der Vergangenheit zu liegen. Dieses Modell befragt die Wiederholung geschichtlicher Ereignisse und Prozesse, die in Ransmayrs Schreiben, Philosophie und Untersuchung von Geschichte ein Grundparadigma bildet und auf Unbelehrbarkeit hindeutet, auch uns an die von ihm bedauerten Ausklammerung von Geschichtsspalten über Opfer, Wiederholung von Exklusion und Exil intertextuell an Die letzte Welterinnert.11 Sie gehören auch den philosophischen Konzepten, die im Eigenen, im Ich ein Anderes, in dem Sichtbaren das Unsichtbare annehmen, und dieses Grundparadigma gegen eine unbelehrbare falsche Ethik und Exklusion einsetzen : « das sei sagte Mazzini im Grunde nichts anderes als die Methode der Schreiber von Zukunftsromanen nur mit umgekehrter Zeitrichtung » (DSEF, S. 21).
Er entwerfe, sagte Mazzini, gewissermaßen die Vergangenheit neu. Er denke sich Geschichten aus, erfinde Handlungsabläufe Ereignisse, zeichne sie auf und prüfe am Ende, ob es in der fernen oder jüngeren Vergangenheit jemals wirkliche Vorläufer oder Entsprechungen für die Gestalten seiner Phantasie gegeben habe. Das sei, sagte Mazzini, im Grunde nichts anderes als die Methode der Schreiber von Zukunftsromanen. So habe er den Vorteil, die Wahrheit seiner Erfindungen durch geschichtliche Nachforschungen überprüfen zu können. Es sei ein Spiel mit der Wirklichkeit. (S. 21)
Dieses diskursive Konstrukt und« Schauplatz »gilt einer offenen Polyphonie(S. 21, 104), dialogisch unmittelbarer Stimmen und damit assoziierten Multiperspektivität, Pluralität von geschichtlichen, transhistorischen Zeugenschaften in Chroniken, Repräsentationen von Räumen und Zeiten, die von Exploratoren Wissenschaftlern stammen (Weyprecht, Payers S. 38 f.) und über den Alltag von Matrosen – diesen ungehörten Stimmen – berichten. Sie vermitteln eine Soziologie ausgegrenzter Menschen und zeugen von einemepochalen Argwohn kolonialer Prägung. Diese unmittelbar zitierten Stimmen und Zeugenschaften – im Roman kursiv gedruckten Zitate aus Journals, Chroniken – setzen erzähltechnisch die kolonisierende traditionelle Erzählung außer Kraft und rehabilitieren an der Poetizität der Sprache und grenzüberschreitenden Ikonographie ursprüngliche wahre Töne.12Sie berichten bei ihrer Erfahrung historischer Dringlichkeit über extrem gewaltige Bedingungen einer Nordpollandschaft. Sie bestehen hintergründig bei dieser intermedialen und räumlich-zeitlichen, spiegelartigen Kombination eines Spiels im Spiel, einer Tiefe tropischer Landschaften auf einem« Bildschirm »auf einen verdoppelten Realitätshintergrund, rhizomartig verzweigte Machtdemonstrationen von Herrschaft über den Raum und Körper, auf ein Inneres. Diese Realitätsverdoppelung deutet auch weiterhin auf eine Ausbreitung und Deterritorialisierung (S.127), die darauf zielt, die historisch ideologisierte Landschaft von herrschaftlicher Einseitigkeit literarisch zu befreien und in eine neue Präsenz und Historizität als Negation umzudeuten.
Ransmayrs erste formale Grenzüberschreitung spricht von « Kulissen », die hier Kehrseiten einer Philosophie der Geschichte implizieren und umschreiben. Wiederholt wird auch diese Lexik einer dialogischen, unmittelbaren Bühnenkunst an anderen Stellen in den Schlusskapiteln, wo vom « Vorhang », der « sich aufhebt », von « Dramen der Eispressungen deren Vorspiele die Menschen fast täglich beunruhigen », abgelöst werden (S. 111). Diese rhetorischen Orte und Szenarien lassen sich nicht nur als Zeichen für unmittelbare diskursive Kommentare einer Selbstreflexion der Autor-Figur erkennen, sondern v.a. als dialogisch-intertextuelle Indikatoren für eine Hyperbolisierung verschwiegener Tragik, überzeitlicher apokalyptischer Stimmungen und Macht, auch Genealogie doppelter Gewalt einer Natur und durch menschliche Herrschaft, Ordnung und Objektation von Körpern verorten. Sie funktionieren aus der Notwendigkeit und dem Bedürfnis Ransmayrs nach Gerechtigkeit diesen in einer Ferne, einem einsamen, vergessenen Tod verstummten Stimmen von Matrosen gegenüber. Der Anachronismus ist zugleich eine Umschreibung nicht nur historischer, wahrscheinlicher Unwahrscheinlichkeit, nahe literarischer Grenzüberschreitungen und Doppel- und Vielseitigkeit, die hier idealistisch im Namen einer Geschichte gegen den Strich und einer Gerechtigkeit in den Blick gefasst werden sollten. Ransmayr konfrontiert und korrigiert die offizielle einseitige Geschichte von Institutionen mit der kleinen bisher ungeschriebenen Geschichte einfacher Menschen. Er denunziert exemplarisch an Ritualen einer Feier auf dem Schiff die Erhaltung elitärer sozialer Grenzen durch Rituale, Ordnung und Ungleichheit, die den Alltag von Menschen bis ans Ende der Welt und deren bevorstehenden Tod bestimmt haben. Die Schreie der Natur, einer Naturgewalt überdecken und dämpfen menschliche Schreie vor einem bevorstehenden, sicheren Tod. (S. 114, 82 ff.)
Ransmayrs Begrifflichkeit erstrebt v.a. die Geschichtlichkeit eines literarischen Schreibens, der Literaturgeschichte und einer Geschichtsschreibung als « Poetics of Culture » und Alltag – einem vom New Historicism und Poststrukturalismus erweiterten Kulturverständnis – nahe zu bringen, und die die Zeitstimmung der 80er. Jahre bestimmt haben, und ein bisheriges lückenhaftes, zentristisch geprägtes Geschichtsverständnis kompensieren.13
4. Schreckensgeschichte, eine Warnung vor Gewaltreproduktion
Mit diesem Beziehungsgefüge einer vernetzten Form resümiert Ransmayr die originäre Gleichzeitigkeit eines Ungleichzeitigen literarischer Werdung als Mythos-Literatur, Ursprung und Gründungsmoment, und legt diese letzte als Autonomie einer gerechten buchstäblichen Fantasie und Grenzüberschreitung aus.14
Wir sehen in dieser gleichzeitigen Auseinandersetzung mit Geschichtlichkeit und Schreiben auch Referenten für intertextuelle Bezüge mit Nietzsches Geschichtsauffassung als Wiederholung eines Ursprungs als « Herkunft » und Zukunft – eine Funktion, die die Literatur als Verschiebung von Historizität und Empfindungen hier auch übernimmt. Auch war bereits im Titel eine dialogische Beziehung zu Karl Heinz Bohrers « Die Ästhetik des Schreckens » (1979) wie auch zum literarischen Werk Erst Jüngers « Das erschreckende Herz » erkennbar.15 Das Motiv und Leitmotiv des Grauens und Schreckens als Rekurrenz und Hinweis auf eine Vorkriegsstimmung und Nachkriegszeit wird durch Ransmayrs Aufgriff nicht nur als eine nicht überwundene Angst und Stimmung des « Schreckens » auch vor einer gewaltigen Natur aufgespürt, sondern auch in eine ursprünglichere ferne-nahe Geschichte « erschreckender Herzen » vor einer existenziell problematischen Zukunft umfunktioniert. Aufgegriffen wird die Schreckensthematik auch in Ransmayrs Werk « Strahlender Untergang, ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen » (1982), und wo im Ursprungort der Sahara an der Grenze zwischen Algerien und Niger ein von einer Mauer umschlossenes auswegloses, unsinniges « Terrarium » zur unbelehrbaren Obsession menschlicher Destruktion als Experiment sinnloser Wissenschaft gebaut und programmiert wird.
Jeder fühlt, ohne es auszusprechen, daß er einer ernsten Zeit entgegengeht ; jedem steht auch frei, heute noch zu hoffen, was er wünscht ; denn vor keinem eröffnet sich ein Blick in die Zukunft. Ein Gefühl aber belebt Alle, das Bewußtsein, daß wir, in einem Kampf für wissenschaftliche Ziele, der Ehre unseres Vaterlandes dienen, und daß man unsern Schritten daheim mit regster Anteilnahme folgt. » Julius Payer (DSEF, S. 38)
[...]unbeschreibliche Einsamkeit liegt über diesen Schneegebirgen, wird Julius Payer in sein Tagebuchschreiben. [...] so liegt die Stille des Todes über der geisterbleichen Landschaft. Wir hören von dem feierlichen Schweigen des Waldes, einer Wüste, selbst einer in der Nacht gehüllten Stadt. Aber welch ein Schweigen liegt über einem solchen Lande [...] So stirbt man allein und wie ein Irrlicht verlöschend [...] (DSEF, S. 39)16
Diese Mischung aus faktualen Nachweisen und in Gattungen unmittelbarer auch privater Wahrnehmung und Zeugenschaft (Briefe und Tagebücher) lassen die Fiktivität und Fiktionalität des Diskurses, den Ransmayr als Roman bezeichnet, verdächtig vorkommen und als explizite neue Zeichenhaftigkeit multipler Formen, Sinngebungen, -suspensionen, Zeitlichkeiten und Historizitäten kultureller Befunde, vor allem für Bildhaftigkeiten, einen ikonischen Befund und die Kunst als « Différance » und Vielschichtigkeit des Diskurses stellvertretend vorkommen. Diese Überlagerung und Variation von Stimmen und Zeiten in einer Zeitspanne, die die angegebenen ersten 100 Jahren zwischen den zwei Expeditionen überschreitet, vermittelt dem Leser eine nachhaltige Appell-Struktur und Provokation, die uns herausfordert, die Gegenwart eines Mazzinis in der Buchhandlung – dem Gedächtnis und Transitort für akademische Begegnungen einer Gegenwart – mit einer ferneren Vergangenheit, mit verblassten Blättern aus akademischen Archiven des Kaiserreichs zu verbinden (v. 1872). Auch ist die zusätzliche Bezeichnung der Kapiteln 5, 8, und 14 mit dem Begriff « Exkurs » eine provokative Herausforderung über die Bedeutung der Offenheit der Form und deren Wichtigkeit für den Autor Ransmayr, dessen Schatten als Autor-Figur obsessionell vorkommt. Die Geschichte wird dauernd als Präsens und Zukunft, bzw. Anspielung auf Utopie abgespielt, und damit als ästhetisierte Wirklichkeit und Temporalität aufgeführt und definiert.
Im achten Kapitel und damit dritten « Exkurs » des Romans werden Stimmen ab dem 11. Jh. als Öffnung auf eine fernere Vergangenheit angeschlossen und gleichzeitig als Kartographie von Gefühlen, Ängsten auch vor dem Tod, dem geschlossenen Horizont eines finsteren Nordpols entworfen, deren Verschiebung auf die Gegenwart eine geistige Erkenntnisreise, einen performativen Erkenntnisprozess durchs Schreiben und die Literatur, nicht nur inszenieren, sondern diesen weiter als erneuerte Aktualität, unendliche Wiederholung einer « Schreckensgeschichte » und als ewige Widerkehr aufspüren lassen und denunzieren.
Im Schreiben und sich Erinnern Ransmayrs an die Vergangenheit und der Überlappung dieser letzten mit der Gegenwart, konkretisiert sich der Sinn einer multiplen Äquivalenz, Zirkularität und Nähe von entfernten Zeiten und Verschiebung nicht nur der Geschichte, sondern eine Inszenierung des Mythos-Literatur, Ursprungs durch rekonstruierte, erinnerte Geschichte und gleichzeitiges Schreiben über Ungleichzeitiges, eine vorprogrammierte Zukunft und Warnung einschließt.17Vergangenheit war anfangs in Mazzinis ästhetische Anschauung als Zukunft definiert und wird unter der Feder Ransmayrs zur Praxis einer Negation und Gegengeschichte zu einer Genealogie von Gewalt. Ransmayr denunziert indirekt die Arroganz menschlichem Bewusstsein und Gewissen gegenüber wiederholter, eher dauerhafter Schreckensgeschichte. Er appelliert dadurch an die Notwendigkeit erneuerter geschichtlicher Bilanz : « Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen », hieß es bei Christa Wolf.18 In diesen Zwischenräumen fließender Grenzen zwischen geschichtlichen Spalten, Schichten und Inszenierung werden nicht nur Anspielungen auf « Mille Plateaux » von Deleuze und Guattari, dessen erster Teil « Rhizom » transparent19, sondern vor allem das Andenken und anders Erzählen zum Imperativ einer Kreativität und eines Engagements auch vorgesetzt. Die Kartografie von Gefühlen warnt vor Wahrnehmungstäuschungen und grenzüberschreitender Schreckensgeschichte.
5. Von Innen und Außen-Landschaften, ein Spiel mit Ellipsen und rehabilitierte Gefühlsgeschichte
Zwei Wahrheitssysteme stehen einander gegenüber, und funktionieren dialektisch zueinander, das der Natur und das eines Inneren als Kern einer menschlichen Wahrnehmung. Zwei Räumlichkeiten und Landschaften – einer sichtbaren Eiswildnis und eines Inneren, Unsichtbaren von Menschen, dem überwiegend Matrosen nicht mächtig sind, repräsentieren eine Unzeit als geschichtsphilosophische Dimension und zugleich Unmöglichkeit, die nur erzählerisch, ästhetisch eine Überwindung von Leiden zur Möglichkeit, Utopie und Aussicht vor Auge gefasst werden könnte. Die Grenzüberschreitung und Hoffnung liegt in der Kunst, die über Schwankungen eines Inneren, von Abhängigkeiten und Unterwerfung erzählt.
Die dominanten Landschaftsbeschreibungen als konzentrierte Metaphorizität und Allegorese erlangen in diesem Werk und Diskurs ihre Autonomie und Stimme, aber auch doppelte Funktionalität als ein Suggerieren von einem Inneren, Empfindungen auch als Zeitempfinden und Wahrheit eines Unsichtbaren im Menschen. Sie erzählen von einer Wahrnehmung der Natur am Nordpol, von Naturschrecken, die von den sich verwandelnden, lebendigen aber tödlichen Landschaften der Eismeere und Eisberge ausgehend, hier transhistorisch von ihrer Verschränkung mit der Geschichte, menschlicher « Schock » – und Schrecken-Erfahrungen und von Gewalt zeugen.20Auch erzählen sie von der Unvergäng-lichkeit traumatischer Spuren im Körper, von eingeschriebener Vergangenheit im Körper, die nicht vergeht, vergehen kann.21
Die Ikonographie und Metaphorizität ist grundlegend vielschichtig und unterliegt einem semiotischen Spiel mit Schein und Kehrseiten, einer Verschränkung und einem Verwandlungsprozess, die im Laufe des Diskurses sowohl die finstere Natur des Nordpols als ein Außen, als Topographie als auch ein Inneres von Menschen – mehr von Matrosen und Arbeitern als von Wissenschaftlern -betreffen und kontaminieren, mit Ausnahme von Weyprecht und Player. Diese doppelte eher multiple Funktionalität der Landschaft kommt einleitend spielerisch und verschwommen vor, doch verdichtet sie sich zu einer programmatischen Repräsentation von beseelter Wirklichkeit, auch innerer Empfindungen von Menschen, Verschränkung von Allegorien mit der Geschichte und Schreiben als nicht von Herrschaftsideologemen befreiter Existenz. Diese multiple Funktionalität der Landschaft wird in der zweiten Hälfte des Romans dominant an einer doppelten und untrennbaren Kartografie von Gefühlen und verletzten zugrunde gehenden Körpern anschaulich – zuerst an den in einen Friedhof, Gefängnis sich verwandelnden Eisfelsen, Eiswüste, bzw. einer Natur, dann an der Verschiebung menschlicher Gefühle/Empfindungen in Angst und Depression, die schließlich am Wahnsinn von Klotz, von amputierten unter Skorbut leidenden Körpern nachweisbar werden(S.196, 225). Die sich verwandelnden Landschaften wechselnder Bühnenbilder der Natur werden in eine Innerlichkeit von Menschen umfunktioniert. Die « Ellipse des Lichtes » als Ausdruck für Finsternis suggeriert durch eine Verschiebung die rhetorische Figur eines nicht Sagens, nicht Sehen-Können, Sehen-Wollen als verfehlter Erkenntnisprozess, sogar Versagens der Sprache. Sie macht Ransmayrs performative und diskursive Doppelbödigkeit und Spiel mit vergänglichen Landschaften und Täuschungen, der Illusion näher, anschaulich und lebendiger.
Es wird dunkler. Glühend und sanft verlöscht das Licht in ihrem schillernden Eistheater. Aber dann hebt sich kein Vorhang zum großen Ereignis. Die Dramen der Eispressungen, deren Vorspiele sie jetzt fast täglich beunruhigen, werden in der Dunkelheit stattfinden. Sie bangen um ihr Schiff. Sie haben Notproviant [...]. Aber zwei Tage später erscheint ihnen plötzlich die verschwundene Sonne wieder, eine verzerrte Ellipse, aber nein, das ist nicht die Sonne, es ist nur ihr Bild, das, entstellt und dann vervielfältigt, wieder über den Horizont heraufgespiegelt wird, ein Trugbild, gewoben aus in Frostschleiern gebrochenen Strahlen, eine Täuschung. Nur ein Bild ? Was ist die Wirklichkeit ? Sie haben ja auch Länder gesehen, Gebirge, die durch den Himmel getrieben sind und zerflossen, Luftspiegelungen, nein, das waren keine wirklichen Länder, doch das waren Länder, schwebende, von silbernen Rändern gefaßten Welten. (DSEF, S. 111f. Hervorhebung v. uns)
Der Zweifel an eigener Repräsentation wird unter der Gewalt der Natur und dem Wechsel der Landschaft zur Norm. Mit dieser « Ellipse » und Trugbildern der Natur werden menschliche Traumata umschrieben. Die Nichttrennbarkeit aber auch Vorrangigkeit eines Inneren vor einem Außen, einer wechselnden Natur und von Sozialverhältnissen, wird zur neuen Regel einer Wahrnehmung und eines Erkenntnismoments, die unter der Feder Ransmayrs sich als Negation eines generalisierten Machtsystems identifizieren lässt – zuerst einer Natur dann eines Wissens und einer Wissenschaft –, die dem Chaos, der Illusion und Chimäre näher und verwandter sind (S. 53). Es ergeht Ransmayr sogar um die Rehabilitierung, Vorrangigkeit eines Inneren als wahre originäre Originität und Wirklichkeit, primäre inchoative Wahrheit, aber auch Ort einer Versöhnung mit dem menschlichen Gewissen und neuer wahrer Aufklärung. Diese Konstellation ist prioritär ein Grundverhältnis, das die Dialektik von Erkenntnis und Wahrnehmung vordeterminiert, und zur Rehabilitierung primärer, erster innerer Gefühlserkenntnis und Wahrnehmung als Normbeiträgt. Sie gehört eigentlich nicht nur der postmodernen philosophischen Tendenz einer geistigen Stimmung der 80.er Jahre, sondern auch schon den philosophischen Ansätzen seit Nietzsche.22
Ein Grundparadigma lässt sich in der Rückkehr, dem Gleiten der Zeit der Vergangenheit auf die Gegenwart des Schreibens, einer ästhetisierten und konstruierten Wirklichkeit als Ausdruck für Ransmayrs Engagement für eine Gegenwahrheit über das ungleiche Dasein von Menschen identifizieren. Schreiben wird durch die Konfrontation mit einer eigentlich ungenau archivierten Geschichte von Entdeckungen, Explorationen zur Korrektur, auch zum Bekenntnis, zur Sühne über eine breitangelegte Kolonialgeschichte. Ransmayr bedauert durch diese Parallelgeschichten, die Wiederholung der Geschichte, verwandter Ausnutzung von Einheimischen wie Fremden. In Steinen, Felsen waren Goldschätze, geschichtliche Schimären auch Ausbeutungsgeschichten abgelaufen und eingeschrieben. Ransmayrs Ironie kehrt die Ordnung und Weyprechts Disziplineinhaltung durch alltägliche Gesten auf dem Schiff in ein Mutszuspruch, Ausdruck von Solidarität, Menschlichkeit und Vitalismus um. Vor der Wildheit einer drohenden Natur wendet Weyprecht Mechanismen institutioneller Disziplinierung in eine Lebensrettung seiner Männer um.23 Diese Verwandlung und Umkehrung der Ordnung ist nach dieser Durchfahrt durch das Eis und die Zeit möglich. Sie wird vom tiefen Kern eines Unsichtbaren im Menschen und Menschlichen, von Weyprechts und Payers Körper diktiert. Dieser Letzte sah in der Kunst und Malerei seine Überlebenschance, moralische Rettung und Befreiung, auch Emanzipation von einer Welt der Gesetze. (DSEF, S. 263)
Aber auch wenn ihr Leben nicht sanfter, und ihre Angst in den unsäglichen Stunden der Alarmbereitschaft und der Erwartung der Katastrophe nur stumpfer geworden ist, so ermutigt sie der glimmende Lichtbogen am Horizont doch, ihre Kraft dem Chaos da draußen neu entgegenzusetzen. Weyprecht sagt ihnen, daß es vor allem die Ordnung sei, die sie am Leben erhielte ; selbst die gewöhnlichen täglichen Verrichtungen, die meteorologischen Messungen, die Routine der Wachablöse, auch der Küchendienst oder der sonntägliche Kontrollgang der Offiziere durch den Mannschaftsraum hätten doch auch Zeichen dafür zu sein, dass eine menschliche Ordnung selbst in dieser Wildnis nichts von ihrer Gültigkeit verlieren könne ; das Festhalten an der Disziplin und am Gesetz sei geradezu Ausdruck der Menschlichkeit und der einzige Weg, um in der Einöde zu bestehen.(DSEF, S. 141. Hervorhebung v. uns)
Aber was zu sagen war, hat Weyprecht schon vor Jahren und noch im Lärm der Ovationen für die zurückgekehrten Entdecker gesagt : Ich war nie seekrank, begann er damals eine seiner Reden über die Arktis und den Zustand der Wissenschaft, aber ich könnte es werden, wenn ich die Geschwätze über meine Leistungen, über meine Unsterblichkeit anhören muß. Unsterblich ! Und dazu mein Husten ...Die arktische Forschung sei doch zu einem sinnlosen Opferspiel verkommen und erschöpfe sich gegenwärtig in der rücksichtslosen Jagt nach neuen Breitenrekorden im Interesse der nationalen Eitelkeit. Aber nun sei es an der Zeit, mit solchen Traditionen zu brechen und andere, der Natur und den Menschen gerechtere Wege der Wissenschaft zu betreten.... (DSEF, S. 263)24
Die Geschichte geographischer Leerstellen auf der Weltkarte auch als die einer « Körper-Unterwerfung », Instrumentalisierung und Versachlichung von Menschen, « Endlosigkeit der Zeit einer Ausbeutung », ist in DSEF der Anlass für transhistorische Erkenntnismomente, Bilanzen und Gegengeschichten. Die Schrecken als historisches und individuelles Empfinden und Erfahrung werden eins und unzeitlich, überbrücken Zeitspannen über Jahrhunderte, auch laufen sie bei Ransmayr parallel zu seiner besessenen ästhetischen grenzüberschreitenden Repräsentation und Anschauung über Welt auch auf eine erzählende, engagierte Form und Struktur des Aufruhrs und Hoffnung, auf eine Offenheit und Autonomie hinaus. Sein Palimpsest offenbart zwei untrennbare Existenzarten des Autors Ransmayr, die seine Nähe zu Mazzini erklären. Die Gerechtigkeit gegenüber historischer Ungerechtigkeit liegt in der gewählten Konstruktion, Grenzüberschreitung seiner Fantasie und von Imaginärem (S. 21).
Die sich in DSEF verwandelnden, bewegenden Bilder einer Eislandschaft sind grenzüberschreitend ; sie verschieben und verwandeln sich in die einer Vorstellung und Repräsentation schreibender Kompetenz. Ransmayrs Funktion besprechender Passagen von Bildern, fördern den Diskurs zum Metatext und Kommentar, zu Grenzüberschreitungen, die auf eine Verdoppelung von Räumen eines Außerhalb(s) durch ein Inneres, auch von Vergangenheit auf die Gegenwart und Zukunft aus sind. Diese Kombination und Diffusion von Bildern lässt eine Schreibende Hand und den Blick eines originären Schöpferakts zur heterogenen Schattenfigur und Obsession einer notwendigen Wahrheit werden. Beeindruckend ist das erstmals suggerierend, dann einen expliziten Schreibakt definierendes Gleichnis.
6. Die Gefühlsgeschichte, eine rehabilitierte Wahrheit und Gerechtigkeit
Der Autor wendet sich grundsätzlich neben den Fragen über den Ursprung der Welt, dem Mythos als das Andere einer Gegenwart, vor allem dem Unsichtbaren, der Geschichte einer Innerlichkeit und Ontologie derer, die der Schrift und dem Schreiben nicht mächtig waren, und nicht einmal eine Erklärung als Verzicht auf eine kaiserliche Hilfe bei der Abfahrt unterschreiben konnten – Erklärung, die auch Verzicht auf das Leben bedeutet.25Zwei Ausdrucksweisen und Repräsentationen von Zeitbewusstsein kreuzen sich und lösen einander ab, erhöhen sich bei Ransmayr zu einer politischen Ästhetik.
Der Ursprung wird hier an einer unbekannten, fernen Welt – der finsteren Heterotopie und Chronotopie des Eismeeres – anschaulich, die auch Züge eines Unwissens über eine Originität nicht nur von Welt, sondern auch über das Andere, Ausgeschlossene, die Kehrseite menschlicher Existenz und stimmlos gebliebene Geschichte menschlicher Angst und Schrecken erfasst. Es gehört jetzt der Notwendigkeit und Dringlichkeit Ransmayrs (nach Mazzini) diese geografischen « leeren Flecken » auf einer Weltkarte von Wissenschaftlern, die die archäologischen Interessen und Ordnung von Macht umschreiben und repräsentieren, gegen das ungeschriebene weiße Blatt über einen Ausschluss des Leidens von Männern/Arbeitern auf dem Schiff Teggetthoff auszutauschen und in eine Buchstäblichkeit durchs Erzählen und Schreiben zu über-setzen. Ransmayrs « Blick gegen den Strich » gräbt heute die Lücken einer Geschichtsschreibung aus sowie ihre Ideologisierung, Deformationen und Deklassierung vom Anderen aus, und verwandelt sie in eine ergänzende Gegengeschichte zu der von der Macht ersehnten Expansionspolitik, auch anderen Erdteilen der Welt erteilten/diktierten Aufgaben und Interessen, die hier vom Autor als noch global wirkende koloniale Inter- und Prädiskurse explizit erwähnt und denunziert werden. Ransmayr betont auf Seite 141 die Episode einer Umkehrung und das rehabilitierte Recht auf das Alphabet, auf Bildung und « Poesie » als Seelsorge, die erst in der Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit auf eine Rettung aus diesem Eisgefängnis, vor einer « Endzeit » von Weyprecht den Matrosen als Hoffnungsförderung, Trost und Versöhnung mit Vitalistischem umgedeutet und angeboten wurde. Die Ironie Ransmayrs schreibt sich in jedem Kapitel wiederholt ein.26
Die meisten Menschen denken an « Abenteuer », wenn das Wort « Entdeckung » fällt. Deshalb will ich den Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken vom Standpunkt des Entdeckers festlegen. Für den Entdecker ist das Abendteuer nur eine unwillkommene Unterbrechung ernster Arbeit. Er sucht nicht Nervenkitzel, sondern Tatsachen, die bisher unbekannt waren. Oft ist seine Entdeckungsfahrt nichts anderes als ein Wettlauf mit der Zeit, um dem Hungertode zu entgehen. Für ihn ist ein Abenteuer bloß ein Fehler in seinen Berechnungen, den die « Probe » der Tatsachen aufgedeckt hat. Oder es ist ein Unglückseliger Beweis dafür, daß niemand alle zukünftigen Möglichkeiten in Betracht ziehen kann [...] Jeder Entdecker erlebt Abenteuer. Sie regen ihn an, und er denkt gerne an sie zurück. Aber er sucht sie niemals auf. Roald Amundsen- Zwanzigstes Jahrhundert. (S. 193 f.)
7. Die Eislandschaft, ein Sinnbild für Wahrheitssysteme und Möglichkeitsräume
Die Unzahl der eingefügten malerischen Bilder von Payer setzen Ransmayrs Originalität und Priorität symbolischer, intermedialer Sprache als ästhetische Notwendigkeit vor. Die Bilderbesprechung leitet Reflexionen auf den Wirklichkeits-, Wahrscheinlichkeitsbegriff ein, der der Schimäre, der Fiktion aber auch Wirklichkeit als utopisch mögliche Weltnahe ist. Ransmayrs Grundparadigma liegt der Annahme nahe, dass Wirklichkeit einer Fiktion gleichgesetzt werden könnte, weil sie auch unglaubliche Ereignisse inszeniert. Die Landschaft, beziehungsweise Eislandschaft wird durch ihre Veränderbarkeit, Verwandlung, nicht nur zur absoluten, vollen Figur, sondern zur Instanz, die das Leben aller Menschen auf dem Expeditionsschiff zeitlich, seelisch bestimmt und bestimmen wird. Sie erlangt eine Macht und diskursiv eine doppelte Verortung, als Naturlandschaft, die einer inneren Landschaft zur Substitution wird, zur Landschaft-Wahrheit eines Inneren und zugleich zur utopischen Projektion einer Negation von zentristischen Wahrheitssystemen. Fließende Grenzen zwischen der Wirklichkeit und künstlerisch-ästhetischen Repräsentation gehören zu Ransmayrs Historizität.
Die Natur übernimmt ihre volle autonome Rolle und Funktion, auf deren Schwankungen die Mitglieder der Expedition hinhorchen ; sie wird hyperbolisch allegorisiert, personifiziert und erlangt ihre Dominanz, Körperlichkeit und Präsenz. Diese als Finsternis identifizierte Landschaft der Eisberge bestimmt die Menschen, Matrosen und ihre Kommandanten, den Lebensrhythmus und Rhythmus ihres Atems, ihrer Seelenschwankungen wie auch Ängste- in einem die Menschengeschichte (112). Die Natur wird zur bestimmenden autonomen Macht und Identität, die sogar die Vertreter eines Wissens neben politischer Macht beherrschen wird ; sie wird aber auch zum Mittel ihrer Autonomisierung gegen eine zentristische Macht. Diese Felsen operieren eine Inversion der Macht, da diese Expeditionen Länder und Kaiserreiche – hier Österreich repräsentieren. Andere expansionistische Interessen Schwedens und Norwegens werden in diese Spirale integriert und gezogen, die bereits menschliche Körper vor der Natur untergraben.27
Die repräsentierte konstruierte Wirklichkeit Ransmayrs spielt auch auf die Möglichkeit gerechter sozialer Existenz an. Ransmayrs Spiel mit Umkehrungen – der Hyperbolisierung menschlicher Dummheit durch die Annahme einer Subjektivierung durch Fortschritt, die aber eher auf eine Entsubjektivierung und Versachlichung aus ist, denunziert neue Reflexe, nachgeahmte Vergöttlichung und Bestimmung von Schicksalen durch Herrscher als Reproduktion mythischer Götter. Seine Kritik und Autonomie kulminiert aber in seiner Dezentrierung des Subjekts und Autonomie außerhalb des Machtkodes. Sein Dekonstruktionsspiel wählt die offene Parole und Zeugenschaft eines Weyprechts nach seiner Rückkehr und die malerische Kreativität Payers, führt das Subjekt in andere symbolische, ikonische Bereiche wiedergewonnener autonomer Repräsentation von Natur und gleichzeitiger Denunziation einer Drohung, neuer politischer Verräumlichung und Relokalisierung von Macht. Mit der malerischen ikonischen Zeichenhaftigkeit – Malerei Payers – verlässt der Autor das Muster einer Negation durch Oppositionen und fördert andere Ausdrucksformen, Symbole, Stimmen und Repräsentationen zu Formen der Ausgrabung von Ausgegrenztem, lautlos gemachter Präsenz. Die geretteten und zurückgekehrten, überlebenden Mitglieder der Mission – Weyprecht und Payer – stellen im Kapitel 18 ein Erwachen des Gewissens dar, und füllen die gefährlichen « Risse » aus : « Trugbild [...] eine Täuschung. Nur ein Bild ? Was ist die Wirklichkeit [...] das waren keine wirkliche Länder, doch, das waren Länder, Schwebende von silbernen Rändern gefassten Welten. » (DSEF, S. 112)
8. Ransmayrs postkolonialer Blick und Verschiebung von einer Geopoetik in eine Geopolitik
Der Blick solle dagegen auf die verschwiegenen Annahmen und Strategien gerichtet werden, die die Diskursmachterzeugen und stabilisieren. In der dekonstruktivistischen Praxis erkennt Spivak einen ’affirmativen’ Aspekt, da sie politisch befähigen kann. Der Kampf gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse stehe immer in der Gefahr, die Normen und Werte des kolonialen Diskurses zu verstärken, indem sich Teile von diesem in die Gegendiskurse einschreiben. Sie spricht hier von einer « Wiederholung in den Rissen ».28
Ransmayrs postkolonialer Blick und postmoderne Kritik sagen sich schon Einleitend in seinem Gleiten von einer Geopoetik in eine Geopolitik an, in seinem Vergleich, der Linearität und Korrelation der Eisgebiete mit warmen Tropen, die nicht nur als Grenzverläufe, Gegensatz, zugleich verwandte Kehrseite zu den Eisgebieten funktionieren, und die er auch mehrmals metaphorisch als Wüste, als Leere, bezeichnet, sondern auch als grenzverlaufende Verwandtschaft zu/mit bisher bekannten kolonialen Geschichten und Expansionen, als andere Heterotopien für Herrschafts- und Versklavungsgeschichten von Menscheninszeniert (DSEF,). In seinem Vergleich mit warmen Tropen wird nicht nur auf Claude Lévi-Strauss und « Tristes Tropiques » (erschienen 1955) angespielt, sondern das Netz intertextueller Öffnungen auf andere Werke Ransmayrs, wie « Strahlender Untergang » erweitert, und das sich in der Wüste zwischen Algerien und Niger abspielt, sondern auch « Atlas eines ängstlichen Mannes » (2012) impliziert. Alle diese literarischen Diskurse verwandeln sich in eine politische Kritik gegen eine sich verallgemeinernde Indifferenz, Gleichgültigkeit und Austauschbarkeit von Prädiskursen. Eine vielschichtige, vielfältige Gewalt unterliegt einem unendlichen Substitutionsspiel. Diese Geschichten werden durch diese Korrelation zur Gedächtnisarbeit, politischen Kritik über die nicht-heldische Geschichte von Unterdrückten und Sklaven. Ein Vergleich wird konnotativ zur Insistenz mit der vom Kaisertum getragenen Vorstellung von Wissenschaft, die den Ruhm ersucht, und die Ransmayr einleitend mit Tropischen Räumen assoziierte. Dieser Parallelismus zwischen der Eisgeschichte mit Wüsten ist an der wiederholten Verdoppelung, Zwillingsassoziation der « Verdunkelung des Blickes » nachvollziehbar. Die Erfahrung als innere gehört dem ersten Vorsatz und Priorität Ransmayrs vor dem Riss.29
Ransmayrs anfangs seltsam empfundene Romanform und Montage, verweisen auf ein historisches Jenseits, « graues Archiv »30, bzw. ein Abwärts zum literarischen Diskurs, auf Unsichtbares als erste Wahrheit, die bei ihm der Wirklichkeit vorausgehen und eine Wahrscheinlichkeit als historische Fakten, politischen Alltag befragt und relativiert, die aber in einem Inneren sitzt und nur durch die Literatur und ihr Spiel wörtlich durch Kritik und Dekonstruktion ausgeglichen werden kann.
Die Erfindung setzt der – Ransmayr-Mazzini – als « erste innere Wahrheit » auf, und damit als Umkehrung einer bisherigen Poetik und Taxonomie voraus. Ransmayr kehrt das Prinzip einer Mimesis um, und geht von der Wahrheit und Zeugenschaft eines Inneren, einer Stimme/ Stimmen von Matrosen primär aus, die zwar das Unglück einer Finsternis auf den Eismeeren erlebt haben, deren Zeugenschaft jedoch von niemandem gehört, gefragt oder gelesen wurden. Es ergeht Ransmayr vordergründig um die « erste innere Wahrheit der Erfindung » als anderes « Tauschprinzip » gegen eine « vaterländisch » organisierte Politik als Expedition in die Arktis. Das vorher erwähnte Verhältnis zur Vergangenheit als Geschichte hebt wiederholt ein Grundparadigma seiner Literatur und Werke hervor, das uns an das Spiel mit einer Achronie in DLW erinnert, und auf die Historizität aber auch Zirkularität einer Archäologie von Gefühlen gegenüber einer Genealogie von Gewalt, einer Ausnutzung von Menschen anspielt und als zentrales Interesse errichtet, der er eine globale Anschaulichkeit verschafft.
Ransmayrs postkolonialer Blick rückt explizit an seiner faktischen Besprechung der von Azteken geschriebenen Kolonialgeschichte ihres Landes – die nicht von Konquistadoren übernommen wurde – auch an seiner Erwähnung der Konkurrenzen zwischen Spanien, Portugal und Holland als intertextuelle historische Bezüge in eine Nähe, zu seinem kritischen historischen Blick und ins Zentrum seiner Poetik und Ästhetik. Ransmayr tauscht die Repräsentativität der Wahrheitssysteme um, stellt den versachlichten, instrumentalisierten Körper als notwendig auszugleichende Wahrheit und zu erfüllende Gerechtigkeit, Gegengeschichte auf, auszufüllende Risse, Lücken und Leerstellen einer Geschichts-schreibung und deren Kartographie.31 Sein Anachronismus dient einer Rehabilitierung der anderen Wahrheit, der der Schwächeren, der Verbeugten Körper von Matrosen in dem unendlichen finsteren Winter, mit seinen Ängsten, seiner Einsamkeit und Verlassenheit, aber auch einem Weyprecht und Payer nahe, die sich schließlich kritisch von den Machtdiskursen distanzieren und emanzipieren.
Der Blick auf die Vergangenheit tritt hier als Gerechtigkeit ein, Ergänzung zu den von Wissenschaftlern verzeichneten Beobachtungen, die oft als Ungenauigkeiten ohne Überprüfung von einer Herrschaft deklassiert und am Ende des Romans als falsches Bewusstsein einer Herrschaft denunziert wurden. Ransmayr erhebt seine dem literarischen Diskurs vorausgehende Forschungsarbeit darüber zur anderen notwendigen Gerechtigkeit. Diese liegt in diesem Anderen zur registrierten, institutionalisierten Erkenntnis über unbekannte Erdteile, zum Teil als falsche wissenschaftliche Befunde deklassierte, neben denen oft die « innere Landschaft », das Leiden von Menschen nicht verzeichnet waren oder überhaupt den Archiven einer chronischen Vergessenheit überlassen waren.
Schlussbetrachtungen
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« Die Labyrinthe der Wirklichkeit » : Zwei Zeiten und Wirklichkeiten – die Zeit noch auf dem Eismeer mit dem Gekläff der tollen Hunde und die Zeit unterwegs nach Hessen ringen in Weyprechts krankem Körper und « wirrem » Kopf eines « Narbenmannes »32, der (1881) Krank nach Hause mit dem Zug von Österreich nach Hessen gefahren wird. Die Grenzüberschreitung von Bildern im letzten, 18. Kapitel versöhnt ihn mit dem ursprünglichen Anderen seines Ich « im Reich der Vorstellung », einer bisher von Aufgaben, Befehlen dominierten Innerlichkeit. Das dominante Bild ineinander fließender Zeiten eines Bewusstseins und gleichzeitig von Unbewusstsein labyrinthischer Bilder lagen im Kopf und Körper Weyprechts, und sind auch die des « bloß Möglichen » einer inneren Wahrheit, die plötzlich aufwacht und « in die Vergangenheit wie in die Zukunft » fließend ihre Autonomie in der Wahrnehmung wiedergewinnt.
Innen und Außenräume enden im Menschlichen, im Malerischen einer befreiten Wahrnehmung und Symbolwelt eines kranken Subjekts Weyprecht, dessen Ausdrücklichkeit sich zum neuen Gesetz und zur Negation gegen eine Ordnung der Gehorsamkeit und Formen der Unterdrückung durch eine offizielle Gewalt wendet. Sein Ende und naher Tod ist eine Rückkehr in die ungetastete Sphäre unbeherrschter Originität einer Repräsentation, des « Willens », des Begehrens, die aufbegehren wollen ; sein Ende verrückt sich in die wiedergewonnene Autonomie eines kranken aber emanzipierten Menschen, dialektische Vitalität eines lebendigen Todes. Der Wille wird zur Wiedergeburt des im Subjekt verweilenden Anderen trotz allen Traumatas.
Am Ende seines Lebens versöhnen sich Weyprecht, aber auch später Payer mit ihrem vitalen Kern und der geretteten inneren Freiheit, der Selbsteinschätzung, auch längst unterdrückter Aufruhrs- und Widerstandskraft. Seine menschliche Würde rettet Payer durch die Kunst wie vorher Weyprecht durch die über « Eintausend » gehaltenen Vorträge als Ausdruck autonomer Zeugenschaft und geretteter Würde eines Überlebenden ; anders rettet beide der « Wille », das befreite Wort und die Kunst.
In den Kartografien ferner, unbekannter Orte vernetzen sich rhizomartig Kartografien sozialer, ideologischer Ordnungen, auch menschlicher Schicksale, niedriger Konstellationen, Räume von Empfindungen, Träumen, die rasch zu Landschaften von Enttäuschungen, genauer auch Ent-Täuschung im Sinne von « ohne Täuschung », zu Begegnungen mit einem Selbst, dem unbekannten bisher verdrängten Selbst werden. Die Geografie von Leerstellen, des Vergessens verwandelt sich und verzweigt sich rhizomartig mit einer bisher marginalisierten und jetzt emanzipierten inneren Fülle und Freiheit. -
Die Wahrheit der Poesie – Poesie ist Wahrheit : Ransmayrs transparente Sympathie gilt den Affekten, der Poesie, den poetisch geprägten Schwingungen und Zeugenschaften, die das Andere in seinen Tönen und Leiden als Gegensprache, Autonomie aber auch Negation der offiziell bisher anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnis rehabilitiert. Seine Poetik und Ästhetik steht den anderen Stimmen und dem Körper nah, den aus « Kälte » « blau » gewordenen Händen, Amputierten Körpern und verletzten Seelen, in einer endlosen Nacht dieser finsteren Regionen : « kurzer, täuschender Helligkeit am fernen Horizont ». Ransmayrs Poetik of cultur und der Negation gilt der Ursprünglichkeit, der Originität, dem Mythos als Ausgleich für die ausgeklammerte originäre Wahrheit eines Unsichtbaren, einer sinnvollen Polyphonie, als auf das Andere, Amputierte, Ausgeschlossene, eines doppelten « Exils » aus der Geschichte anspielende, auch durch den Tod. (DSEF, S. 111).
Ransmayr gleicht eine doppelte Vergessenheit aus, auch in fernen tropischen Regionen und durch eine amputierte Geschichtsschreibung über Schwachen und Opfer. Sein Roman DSEF erzählt von der Wahrheit der Erfindung, die die Vergangenheit neu erfindet und die Zukunft bestimmen sollte – er vergleicht diesen Akt mit « dem Schreiber » von noch verbleibenden « Zukunftsromanen ».