Einführung
Emine Sevgi Özdamars Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“, der 1998 veröffentlicht wurde, erzählt von der jungen namenlosen Türkin, die als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen ist. Die Anonymität der Protagonistin spielt auf eine Zwischenidentität, aber auch auf Zwischenräume an. Die Geschehnisse im Roman finden in zwei verschiedenen Ländern und Kulturen - Deutschland und die Türkei - statt. Sie stellen die identitären und kulturellen Räume bzw. Unorte ihrer Identitätsentwicklung dar, die sich in einem dritten Raum zwischen der Kultur, in der sie geboren ist, und der fremden Kultur, die sie annehmen möchte, befindet.
Die Diamanten sind im Roman von Emine Sevgi Özdamar symbolisch repräsentativ für die wertvolle Jungfräulichkeit und die unsichtbare Grenzlinie zwischen der eigenen und der fremden Kultur. Im ersten Teil des Romans versucht die namenlose Hauptfigur, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Der Grund dafür besteht darin, dass diese Diamanten zwischen ihr und ihrem Traum, Schauspielerin zu werden, stehen. Als sie im Begriff war, sie zu verlieren, geschieht eine Verdoppelung und Spaltung des Ichs, bei der die Erzählerin das andere Ich als ein fremdes Mädchen betrachtet. In diesem Beitrag versuchen wir zu zeigen, dass diese Ich-Verdoppelung einen Zwischenraum öffnet, der gleichzeitig eine Gegenordnung darstellt und eine Grenzüberschreitung einleitet.
1. Die Diamanten als kulturelle Utopie und Ordnung
In Özdamars Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ (1998) wird das Wort „Diamanten“ verwendet, um die Jungfräulichkeit der Frau zu bezeichnen. Die Wahl dieses Begriffs ist nicht zufällig, da er einerseits die Tabuisierung der Jungfräulichkeit in der türkischen Kultur ausdrückt und andererseits ihren kulturellen und gesellschaftlichen Wert betont. In manchen Regionen der Türkei ist man sogar dazu bereit, Morde für diese Diamanten zu begehen. Man tötet nicht für die Jungfräulichkeit selbst, sondern für das, was sie in der türkischen Gesellschaft repräsentiert : die Ehre der Familie.
Die Diamanten vermitteln die Ikonographie, metaphorische Repräsentation und Utopie, und damit auch Werte der türkischen Gesellschaft. Sie sind die Metonymie und metaphorische Entsprechung für den kulturellen Körper der Frau, da sie die Trägerin der Ehre der Familie ist. Das ganze Vermögen der kulturellen Werte lässt sich in dieser Utopie ethischer Vorstellungen kristallisieren.
Wenn wir drei Mädchen in unser Wonaym zurückkamen, liefen die ersten Frauen schon in ihren Nachthemden über den Korridor. Sie sagten :
„Ihr habt euch von euren Müttern und Vätern abgeschnitten. Eure Väter und Mütter sollten euch mit Seilen an sich binden. Ihr werdet eure Diamanten verlieren. Die Knochen eurer Toten werden wegen euch Schmerzen bekommen.“ (Özdamar 1998 : 85)
Die Problematik der Jungfräulichkeit wird hier in ihrer zeitlichen und kulturellen Verschiebung in einem Vergleich mit der europäischen, bzw. deutschen Kultur behandelt. Die Verbindung der Jungfräulichkeit mit den Vorfahren, dem kulturellen Erbe zeigt die schwere Verantwortung, die die Frauen und nicht die Männer tragen müssen. In solchen Gesellschaften, die auf die Ehre gebaut sind, spricht man kaum über die Jungfräulichkeit der Männer. Die Utopie der Reinheit der Frau stellt eine Ordnung dar, durch welche man die Reinhaltung der Ehre versichern kann. Wenn wir die kulturgeschichtliche Entwicklung des Konzepts der Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur betrachten, dann stellt man fest, dass diese einen Wertewandel in dem letzten Jahrhundert erlebt hat. Die Utopie der Reinheit ist vor allem im Christentum zu finden. Das Symbol der Reinheit und der Vollkommenheit ist Maria, die jungfräuliche Mutter Jesu. Sie stellt die Utopie des unberührten Körpers sowohl im Christentum als auch im Islam dar. Sie ist das Vorbild einer vollkommenen Frau, deren Wert in ihrer Jungfräulichkeit liegt, und von einer herrschenden Ordnung und kollektiv diktierten Ethik vorbestimmt ist.
Mythen und Konventionen betonen gleichermaßen die Unwiederbringlichkeit der Jungfernschaft ; ist sie erst einmal verloren, geht eine Frau - oder „die Frau“ schlechthin - jeglicher (über-)irdischen Macht verlustig, schlimmstenfalls sogar all ihres menschlichen Wertes. (Opitz 1986 : 7)
Die Werte und Normen der Religion, die der französische Soziologe Émile Durkheim „Kollektivvorstellungen“ nennt, machen die soziale Integration möglich. Kollektive Entscheidungen, sogar Vorstellungen von einem richtigen Denken und Handeln, damit einem Erkenntnisvermögen und sozialer Praxis.
[...] der höhere normative Status der Kollektivvorstellungen bringt die Teilnehmer des Kultes dazu, gemeinsame Auffassungen des richtigen Denkens sowie des richtigen Handelns zu akzeptieren und von den bloß individuellen Interessen abzusehen. (Särkelä 2014 : 9)
Das Individuum, das diese Kollektivvorstellungen verletzt, wird nicht mehr als „menschlicher Geist“ (Durkheim 2007 : 36 ; zitiert nach Särkelä 2014 : 10) betrachtet.
[...] es verliert das Signum des Heiligen, das das Kollektiv ihm zuerkannt hatte und das ihn zum legitimen Teilnehmer des Kultes gemacht hat. (Särkelä 2014 : 10)
Die sexuelle Revolution in den 60er Jahren und die allmähliche Abkehr von der christlichen Religion, bzw. Moral und Ethik bewirkten einen Wertewandel. Die neuen Werte des Westens beruhen nicht mehr auf die christliche Moral, sondern auf eine säkularisierte Moral. In der Moderne hat die Wissenschaft die Religion ersetzt, sie ist Durkheim zufolge eine »vollkommenere Form des religiösen Denkens“ (Durkheim 2007 : 628, zitiert nach Särkelä 2014 : 11).
Der säkulare/säkularisierte Individualismus hat zur Basis den Kult der Person, wo der Mensch gleichzeitig „Ideal, Wert und Norm“ ist (Särkelä 2014 : 12). Durkheim definiert den säkularen Individualismus als eine „Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (Durkheim 1986 : 57, zitiert nach Särkelä 2014 : 13). Wobei hier postmoderne Ansätze einer Kultur - und Zivilisationskritik an der Modernität implizit gemeint sind. Der zentrale Wert dieser Religion der Moderne ist die “individuelle Freiheit”. (ebd. : 60)
In Özdamars Roman ist der Verlust der Diamanten mit Freiheit assoziiert, eine westliche Auffassung des freien Körpers :
Ataman schrieb auf ein Stück Papier seine Telefonnummer, die aber im Regen schnell verschwamm. Dann schrieb er sie auf meinen Arm :
„Er hat recht, du musst mit Männern schlafen, dich von deinem Diamanten befreien, wenn du eine gute Schauspielerin sein willst. Nur die Kunst ist wichtig, nicht der Diamant.“ (Özdamar 1998 : 99)
Die Diamanten, die sie unbedingt verlieren soll, um eine Schauspielerin zu werden, stellen die Grenze zwischen der türkischen und der westlichen Kultur dar :
„Als die vier jungen Männer zum dritten Mal „Istanbul, Istanbul“ sagten, rief Ataman ihnen über die Tische hinweg zu : „Achtung, Jungfrau.“ Dann sagte er zu mir : „Istanbul, Mistanbul, Diamant wird zum Miamant.“ (ebd. : 73)
Das Minimalpaar (Diamant/Miamant), das durch die Ersetzung des Phonems /d/ durch das Phonem /m/ entstanden ist, weist auf die Veränderung der Bedeutung des Signifikanten „Diamant“ hin. Ihre Herkunftsstadt, mit der sie verbunden ist, wird durch „Mistanbul“ ersetzt. Das Präfix „miss“ drückt einen Mangel oder eine Negation aus. Dieses kreative Wortspiel wird hier verwendet, um die Identität und Herkunft der Migrantin provokativ in Frage zu stellen, die nach dem zukünftigen Verlust ihrer Jungfräulichkeit, nicht mehr zu ihrer Stadt gehören wird.
Der Widerspruch zwischen der Wahl des Signifikanten „Diamant“, eine Äußerung, die mit der Stimme der türkischen Kultur gefüllt ist, und der Tatsache, dass sie den Diamanten verlieren wollte, zeigt, dass sie sich in einem schwebenden Zwischenraum befindet, wo der Wille auch schwebend ist und sie ihre eigenen individuellen Werte neu definiert und sich von ihrer Kultur befreien wollte. Die Erzählerin hat die Diamanten zu eigenständigen Körpern hypostasiert, wie die folgende Passage es zeigt.
Wir drei Mädchen fingen wieder an, in der Nacht zu unserem beleidigten Bahnhof zu gehen. Wir führten unsere Diamanten spazieren und traten vor der Telefonzelle laut mit den Füßen auf, damit unsere Eltern uns in Istanbul hören konnten. (ebd. : 53)
Das Ziel der Personifikation der Diamanten, die mit den Mädchen auf die Straßen von Deutschland spazieren gehen, drückt die allgegenwärtige Präsenz ihrer Kultur sowie den Druck der kollektiven Identität aus. Die in dieser Passage verwendete Metaphorizität drückt die ironische, distanzierte und zugleich nahe Verbindung der jungen Türkinnen zu ihrer Kultur aus. Eine Kultur, die sie immer, mindestens am Anfang des Romans, wohin sie gehen, tragen, und die ihren Sitz in dem Körper hat.
Am Anfang des Romans gibt es kein individuelles „Ich“, die türkische Migrantin konnte sich in diesem fremden Land nur mit dem „wir“ identifizieren : “Wir drei Mädchen fingen wieder an, in der Nacht zu unserem beleidigten Bahnhof zu gehen”. Sie konnte sich nicht von der Gruppe, die aus anderen türkischen Mädchen besteht, trennen. Das „wir“ steht für die Bodenständigkeit und die erwünschte, ersuchte Sicherheit in der Gruppe, dem Bekannten, Vertrauten in einem unbekannten und fremden Land. Die Identität der Migrantin ist vor allem durch die Gruppe bestimmt, sie ist am Anfang ihres Aufenthalts in Deutschland der Maßstab, durch welchen man zwischen dem Fremden und dem Eigenen unterscheidet. Dieses Phänomen nennt Sigmund Freud „Identifizierung“. Aus dieser Solidarität bezieht die Gruppe ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit ein.
Identifizierung bedeutet, dass ich ich selbst werde durch Einbeziehung anderer. Ich werde zu dem, der ich bin, indem ich mich mit einem Elternteil, den Vorfahren, einer Gruppe, mit einem social self im Sinne von William James identifiziere. […] Identifizierungen führen jedoch dazu, dass die Fremdheit eine kollektive Form annimmt. Als fremd gilt das, was aus der jeweiligen kollektiven Eigenheitssphäre ausgeschlossen und von der kollektiven Existenz getrennt ist, was also nicht mit Anderen geteilt wird. Fremdheit bedeutet in diesem Sinne Nichtzugehörigkeit zu einem Wir. (Waldenfels [1997] 2016 : 22, Hervorhebung im Original)
Die Diamanten sind imagologisch das Symbol dieser Identifizierung, sie sind das Bindeglied zur eigenen Kultur, zur Gruppe. Sie stehen für die gemeinsamen Werte, die die Gruppe zusammenhält.
2. Die Ich Verdoppelung als Zwischenraum einer Utopie
Als die Ich-Erzählerin nach Paris fuhr, traf sie einen jungen Spanier, der bis zum Abschied namenlos blieb, und mit dem sie ins Café ging. Als sie aus dem Café gingen, geschah eine Ich-Verdoppelung in einer unerwarteten Weise: « Wenn jemand wegging, bemerkte es niemand. Auch ich merkte nicht, wie ich weggegangen bin. Es war, als ob ich als ein zweites Ich neben mir lief. » (Özdamar 1998: 125)
Die Erzählerin scheidet sich von ihrem Körper und wird diesen letzten als fremd betrachten, wobei sie die Rolle der Beobachterin übernimmt. Diese Verdoppelung des Ichs ist Sigmund Freud zufolge mit dem Prozess des Überwindens zu verknüpfen:
Freud assoziiert Überwinden mit den Verdrängungsprozessen eines « kulturellen » Unbewussten ; ein liminales Stadium, bei dem der Glaube an die Kultur prekär geworden ist und das Archaische inmitten der Ränder der Moderne als Ergebnis irgendeiner psychischen Ambivalenz oder mentalen Verunsicherung erscheint. Der « Doppelgänger » ist die Figur, die am häufigsten mit diesem unheimlichen Prozess der « Ich-Verdoppelung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung assoziiert wird. (Freud 1947 : 246, zitiert nach Bhabha 2011 : 214-215, Hervorhebung im Original)
In diesem Zwischenraum des Überwindens befindet sie sich zwischen ihrer Kultur, die durch die Diamanten symbolisiert wird, und der westlichen Kultur, zu der sie gehören möchte. Die Grenzüberschreitung kann nur durch den Verlust der Diamanten geschehen. Ihre Rolle als Beobachterin ist als Ausdruck eines Verdrängungsprozesses von ihrem kulturellen Unbewussten anzunehmen. Ihr Körper ist mit dem Jungen, aber sie selbst befindet sich in einem anderen Raum und in einer anderen Zeit. Sie ist ihrem eigenen Körper entfremdet. In diesem Zwischenraum geschieht eine Verdoppelung des Körpers, der Zeit und des Raumes.
Yves Montand sang plötzlich nicht mehr. Ich bekam Angst. Ich sagte mir, was wird das Mädchen jetzt tun, die Musik ist vorbei, muß sie aufstehen, muß sie gehen ? Der Junge stand aber auf und legte noch eine Schallplatte auf, Ravels “Bolero”. […] Als Ravels Bolero zu Ende war, hatte die Sonne im Zimmer den Regenmantel und die nassen Netzstrümpfe des Mädchens etwas getrocknet. Plötzlich gingen die beiden die Treppe hoch. Oben, am Ende der Treppe, stand ein Bett. Ich blieb tiefer unten auf der Treppe stehen und sah, daß mein Pullover, mein Rock, die Netzstrümpfe, der Strumpfhalter, Büstenhalter und die Unterhose langsam von oben auf dem Geländer herunterrutschten und am Ende des Treppengeländers übereinander hängenblieben. […] (Özdamar 1998 : 126-127)
Arthur Rimbauds berühmte Aussage « Ich ist ein anderer » zeigt, dass die Fremdheit nicht immer von außen kommt, sondern dass sie auch in unserem Inneren sei. Es gibt nicht nur „ein alter ego, sondern auch eine Alterität des ego“ (Waldenfels [1997] 2016 : 28) Ähnlicherweise weist Julia Kristeva darauf hin, dass das Fremde in uns ist : „Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde ; wenn ich Fremde bin, gibt es keine Fremden.“ (1990 : 209, zitiert nach Waldenfels [1997] 2016 : 28-29)
Die Entfremdung der Migrantin verschwindet allerdings von Zeit zu Zeit ; sie wechselt von der Rolle einer Beobachterin zur Rolle einer Teilnehmerin.
Plötzlich sah ich zwei Frauen nebeneinander in der Luft stehen. Eine war meine Mutter, die andere die Mutter des Jungen. Ich dachte, gut, daß ihr uns geboren habt, und klatschte in meine Hände. Die Mutter des Jungen warf mir in der Luft einen Kuß zu, und meine Mutter schaute den Jungen an, als würde auch sie ihn sehr lieben. Ich flog in die Richtung meiner Mutter, aber der Junge hielt mich fest, ging mit seinen Händen zwischen meine Haare und verteilte sie in die Luft, nach links, nach rechts. Er hatte schöne Haare, ich hielt meine Hände in seine Haare und fühlte den in der Nacht […] (Özdamar 1998 : 131 – 132)
Die metaphorische Präsenz der beiden Mütter in diesem Zwischenraum, als Zeichen ihrer Genehmigung, lässt die Protagonistin zu ihrem Körper zurückkehren. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums kann hier als Metapher verwendet werden, um die Entwicklung des Ichs darzustellen. In seinem Aufsatz „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ definiert Lacan das Spiegelstadium als eine Identifikation „[...] als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.“ (1986 : 64)
Der Säugling ist bis zu sechs Monaten nicht in der Lage, sich selbst als eine von der Mutter getrennte Entität wahrzunehmen. In seiner Vorstellung und Wahrnehmung bilden sein Körper und der Körper seiner Mutter einen einzigen Körper. Lacan vertritt die Auffassung, dass das Kind ab dem sechsten Monat durch sein eigenes Bild im Spiegel bewusst wird, dass es einen von der Mutter getrennten Körper besitzt (vgl. ebd. : 63). Die Mutter zeigt dem Kind seinen Körper im Spiegel und bezeichnet ihn ausdrücklich, sodass das Kind versteht, dass es sich um sein homogenes Bild handelt. Die Mutter hilft dem Kind, sein „Ich“, seine von ihr getrennte Identität zu erkennen und zu bestimmen.
„Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.“ (ebd. : 67)
Dieses Stadium lässt die Entwicklung des Individuums als Geschichte erscheinen, in der sich eine Veränderung des Bildes des Körpers vollzieht. Das Individuum, das seinen Körper am Anfang als zerstückelt wahrnimmt, wird nach dem Spiegelstadium seinen Körper als Ganzheit akzeptieren, obwohl das Bild seiner neuen Identität entfremdend ist.
Die Verwandlung der Protagonistin in Özdamars Roman soll durch diese Verdoppelung ausgelöst werden. Sie braucht die Genehmigung der Mutter, um das andere „Ich“ - das Mädchen - als sich selbst zu erkennen. Julia Kristeva erklärt in ihrem Buch „Die Revolution der poetischen Sprache“, dass die Mutter diejenige ist, die das Kind in die symbolische Welt einführt : „Insofern kann man sagen, dass der mütterliche Körper das symbolische Gesetz vermittelt, welches die gesellschaftlichen Verhältnisse regelt, [...]“ (1978 : 38-39). Dieses zweite metaphorische Spiegelstadium, das das imaginäre „Ich“ vom realen „Ich“, das Objekt vom Subjekt trennt, wird zur Bildung einer neuen Identität führen. Es stellt kein „Sein“, sondern ein „Werden“, nur eine momentane Etappe und einen kulturellen Zwischenraum dar, in dem die Utopie der Reinheit in Frage gestellt wird. Nach Homi Bhabha entsteht in diesem Zwischenraum ein Raum der Kreativität.
„Wieder ist es der - in den kulturellen Zwischenräumen entstehende - Raum der Intervention, der kreative Erfindung in die Existenz einführt. Und ein letztes Mal gibt es eine Rückkehr zur konkreten Realisierung von Identität in der Iteration, zur Neuschaffung des Selbst in einer Welt des Fortschreitens, zum erneuten Ansiedeln der Grenz-Gemeinschaft der Migranten.“ (Bhabha [2000] 2011 : 12-13)
Die Migranten befinden sich in einem Zwischenraum, der die Grenzen ihrer Identität kreativ neu definiert. Wenn die Grenzen der Kultur und der Identität nicht fixiert sind, ist der Mensch laut Waldenfels ständig gezwungen „neue Ordnungen zu finden und zu erfinden. Der Mensch wäre also niemals völlig in seiner Kultur zu Hause.“ (Waldenfels [1997] 2016 : 44) Diese Bewegung der Grenze ist durch die Begegnung mit dem Fremden verursacht : „In jedem Fall bringt die Erfahrung des Fremden die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem in Bewegung, und dies um so mehr, je näher uns das Fremde rückt.“ (ebd.)
Das erzählende „Ich“ übernimmt in dieser Verdoppelung die Rolle des unbewussten Ichs des Subjekts, da es dasjenige ist, das die Sprache und das Verhalten des Mädchens kontrollieren kann. Das Mädchen steht für die Außenwelt, während das erzählende „Ich“ die Innenwelt des einheitlichen „Ichs“ darstellt, da beide Welten sich in einer Situation von Zersplitterung und Entfremdung befinden. Dabei ist zu bemerken, dass das unbewusste Ich der Ort der Entstehung der Signifikanten ist, die das andere Ich ausspricht.
„Das Mädchen zog ihn wieder zu sich heran, aber ich fand in meinem Kopf ein englisches Wort, das ich schon lange vergessen hatte, das Wort kam plötzlich wie ein Geruch aus einer Truhe, die zu lange geschlossen war : „Wait.“ Ich soufflierte dem Mädchen „wait“. Sie sagte „wait“, der Junge wartete, sie wartete.“ (Özdamar 1998 : 127-128)
Diese Passage veranschaulicht auf ideale Weise Lacans berühmte Aussage „Das Unbewusste ist der Diskurs des andren“ (Lacan [2006] 2012 : 222), die die Fremdheit zwischen dem bewussten und unbewussten Teil des Ichs betont und die Alterität des Ichs darstellt. Der Körper des Mädchens will mit dem Jungen schlafen, während das Unbewusste noch nicht bereit ist, diese Schwelle zu überqueren. In der letzten Nacht jedoch ist das Unbewusste ihres Subjekts dasjenige, das den Verlust der Diamanten provoziert.
„Das Mädchen umarmte den zweiten Jungen, der erste Junge sagte : “I have cold”, und zog sich seine Pyjamajacke an, und während er die Jacke zuknüpfte, flüsterte ich dem Mädchen : „Heute ist die letzte Nacht. Schlaf mit ihm“, und knöpfte dem ersten Jungen seine Pyjamaknöpfe wieder auf. Er hatte Fieber, so dass sogar die Knöpfe heiß waren. Ich drehte das Mädchen zu ihm, legte ihre Arme und Hände auf ihn.“ (Özdamar 1998 : 137)
Der Verlust der Jungfräulichkeit geschieht, ohne dass das unbewusste Subjekt der namenlosen PROTAGONISTIN es fühlt oder davon bewusst ist, wegen der Kluft, die es zwischen dem Subjekt und seinem Körper gibt. Die Entjungferung sowie der Geschlechtsverkehr sind nicht ausdrücklich erwähnt, sie sind in Form eines Fiebers dargestellt : „Die Decke war bald nass durch sein Fieber, ich kratzte weiter an meinen Wangen, es brannte und juckte. Meine nassen Haare klebten an meinen Wangen und taten ihnen weh.“ (ebd.) Wenn sie am Ende ihres Aufenthalts in Paris von dem Jungen Abschied nimmt, liest sie das von ihm geschriebene Gedicht :
[...]
I see in this occidental Megalopolis,
a joyful poppy,
disturbing all the circulation planning.
This little alcove is broken
and it is impossible to come back
and it is impossible to come on.
[…] (ebd. : 139)
Er spricht über ein kleines „alcove“ (Nische), die gebrochen ist und nicht mehr kommen wird. Er bezieht sich hier mittelbar auf den Verlust der Jungfräulichkeit, wobei diese gebrochene Nische als Symbol für das Einreißen des Jungfernhäutchens verwendet wird.
Neben dem symbolischen Spiegelstadium, das mit dem Auftreten der Mütter, hergestellt wurde, taucht ein konkreter Spiegel ausdrücklich auf Seite 134 auf, um dieses Mal die Verdoppelung des Jungen zu provozieren. Die männliche Identität wird von Lacan als vom weiblichen Ich heterogen abhängig bestimmt angenommen.
Sein Kopf blieb eine ganze Zeit an die Knie des Mädchens gelehnt, so konnte sich das Mädchen dieses Bild allein im Spiegel anschauen. Sie sah dort ein ganzes Mädchen und einen halben Mann, der vor ihr kniete. […] Ich schaute auf das Mädchen. Sie hielt ihre Hände in seinen Haaren und dachte an ihn und schaute zum Ende des Zimmers, wo eine Tür offenstand, sie hielt weiter ihre Hände im Haar des Jungen, aber plötzlich sah sie den gleichen Jungen durch diese Tür herausgehen. Sie verließ den Spiegel und ging hinter diesem zweiten Jungen her. Ich sah den ersten Jungen noch kurz im Spiegel auf seinen Knien, dann verließ auch er den Platz vor dem Spiegel, im Spiegel blieb nur der leere Raum mit einem Fenster. Das Mädchen ging hinter dem zweiten Jungen her, der erste ging hinter dem Mädchen her, ich ging hinter allen her.
Draußen stand das Auto des ersten Jungen und nahm uns alle auf. Ich saß hinten, und der zweite Junge saß neben mir. Keiner sagte etwas. Die Dunkelheit kam und schluckte uns alle, das Auto fuhr so, als ob es etwas Schweres zu tragen hätte, langsam. (ebd. : 134 – 135)
Das Mädchen sieht das Spiegelbild des Jungen und ging hinter ihm her, als er den Spiegel verlässt, während der reale Junge dort neben dem Spiegel blieb. Das andere Ich liebt das imaginierte Bild des Jungen und nicht den realen Jungen, weil wie Lacan es in seinem Aufsatz „Ich–Ideal und Ideal–Ich“ erklärt hatte, sei „Die Liebe (ist) ein Phänomen, das sich auf der Ebene des Imaginären abspielt“. (Lacan 1978 : 182)
„In der Liebe ist man in ein Bild verliebt, dass man selbst erfunden hat. Lacan veranschaulicht seine Hypothese mit Werthers erstem Treffen mit Lotte, die im Begriff war, ein Kind zu päppeln. Das Bild von Lotte mit dem Kind ist Lacan zufolge „ein vollkommen befriedigendes Bild des Anlehnungstypus” (ebd. : 183, Hervorhebung im Original) und das ist gerade diese Übereinstimmung zwischen dem Bild von Lotte und dem imaginierten Bild von Werther, die die Bindung provoziert hatte.
Diese Koinzidenz des Objekts mit dem fundamentalen Bild für Goethes Helden ist das, was seine tödliche Bindung auslöst [...] Das ist sie, die Liebe. Es ist das eigene Ich, das man in der Liebe liebt, sein eigenes Ich, wie es auf der imaginären Ebene realisiert ist.“ (ebd.)
3. Die Heterotopie als Ort einer Grenzüberschreitung
Das Studentenzimmer des Jungen, wo die beiden sich befinden, ist eine Heterotopie, weil es ein Nicht-Ort ist. Es ist weder Deutschland noch die Türkei, es ist nur ein Nirgendwo, wo die Diamanten verloren wurden. Dieses Zimmer ist in drei Räume geteilt.
Sie rannten die Treppen hoch und kamen in ein Zimmer, ich mit ihnen. Das große Zimmer hatte eine Treppe, oben gab es ein weiteres Zimmer. Ich setzte mich auf die Treppe und schaute mir das Mädchen, das ich sein sollte, und den Jungen an. (Özdamar 1998 : 125)
Die Treppe ist der Zwischenraum, wo sich die Figur als Beobachterin befindet, während im oberen Zimmer ihre Doppelgängerin mit dem Jungen ist. Die Treppe stellt die Liminalität dar, ein Ort an der Schwelle zur Grenzüberschreitung. Wie Michel Foucault in seinem Radiovortrag „Die Heterotopien“ erklärt hatte, gibt es Heterotopien der Zeit, die „mit dem Übergang, der Verwandlung, den Mühen der Fortpflanzung“ (Foucault 2005 : 17) verbunden sind. Diese Heterotopie ist der Ort des Übergangs für das Mädchen. Sie stellt die Gegenordnung dar, da es der Ort ist, wo die kollektiven Werte ihrer Kultur, die durch die Diamanten repräsentiert sind, verloren gehen müssten, um eine neue individuelle Identität zu bilden. Dieses Zimmer ist ein Transitort, der die Fremdheit und Entwurzelung der Türkin ans Licht bringt. Das Zimmer (oder der Transitort) zeigt die Bodenlosigkeit des Fremden und seine Entwurzelung. Der Raum des Fremden ist, wie Kristeva sagt, ein „fahrender Zug, ein fliegendes Flugzeug, der jedes Anhalten ausschließende Transit selbst. (1990 : 17) Der Migrant, der keinen festen Raum besitzt, lebt mit einem zerstreuten „Ich“, das anderswo, in einem Nicht-Ort ist. Kristeva hat sich das Bild des Fremden als ein zersplittertes Bild vorgestellt, das den Figurenbildnissen von Picasso ähnelt, weil die Auswanderung mit Leiden assoziiert ist : „Fremdheit hebt an mit Trennung, Spaltung, Absonderung, Ausschließung und nicht mit Muße, Genuß und gelehriger Neugier.“ (Vgl. Waldenfels [1997] 2016 : 40, 41)
Schlussbetrachtungen
Der Signifikant „Diamanten“ ist in Özdamars Roman die Verkörperung der Werte der türkischen Kultur. Er trägt in sich die Utopie des reinen Körpers und die Ordnung einer Gemeinschaft, ihrer Werte und Ethik. Wenn man sie verliert, ist man nicht mehr Teil der Gruppe. Sie stellen für die Migrantin diese Reinheit, die Grenze dar, die sie überschreiten muss, um sich vom Raum ihrer Kultur zum Raum einer anderen Kultur zu bewegen. Um die Umrisse ihrer eigenen Identität zu zeichnen, muss sie sich vom kollektiven „wir“ scheiden und die Unabhängigkeit des individuellen „Ichs“ proklamieren. Als notwendige Etappe zur Bildung des neuen Ichs taucht seine Verdoppelung auf, die einen Zwischenraum öffnet. Dieser Raum drückt eine Verunsicherung und den Anfang einer Verwandlung aus. Die Migrantin befindet sich nämlich in einem Zustand von Entfremdung gegenüber dem eigenen Ich, insofern als sie es als ein „Anderes“ betrachtet, das einen anderen Raum und eine andere Zeit bewohnt. Die Anwesenheit der Mütter in diesem Prozess hat zum Zweck ein metaphorisches Spiegelstadium herzustellen, in dem die Migrantin sich der Existenz ihres von der Mutter getrennten Körpers bewusst wird. Die Trennung von dem Körper der Mutter ermöglicht den Beginn ihrer Verwandlung. Der Raum des erzählenden Ichs ist die Treppe eines Studentenzimmers in Paris, eine Heterotopie, die symbolisch die Spaltung der Migrantin ausdrückt, da sie nirgendwo ihren Platz findet.